Chiemgauer 100 Meilen 2015 – alle Jahre wieder …

By | 27. Juli 2015

ein schöner Lauf – und einen Zacken zu hart für mich. Aber ich habe wieder 141 km gefinisht!

Das Foto von der Jochbergalm ist von festei.de.

So tiefe Falten schon nach 100 Kilometern. Dass diese modernen Kameras so scharf schießen ...

So tiefe Falten schon nach 100 Kilometern. Dass diese modernen Kameras so scharf schießen …

 

So klar sind die Aussichten, was einen beim anstehenden 100-Meilen-Berglauf erwartet.

So klar sind die Aussichten, was einen beim anstehenden 100-Meilen-Berglauf erwartet.

Langsam gewöhne ich mich dran, und der Lauf ist immer wieder wunderschön.

Warmlaufen

Diesmal war es nicht wo heiß, aber von Anfang an unglaublich schwül. Und die Gewitterwarnungen haben sowieso nichts Gutes vorhergesagt. Aber so ein Veranstaltungstermin muss einfach schon viele Monate im Voraus festgelegt werden. Und wir müssen dann da durch – völlig freiwillig natürlich. Keiner von uns verdient Geld mit dem Hobby, und keiner würde materiell etwas verlieren, wenn er ausstiege.

Es ist also nicht gar so heiß, ich habe dank des recht schönen Sommers zuletzt viel bei ähnlichen und höheren Temperaturen bei noch steilerem Gelände trainiert, also jogge ich unbekümmert los – diesmal zum frühes möglichen Zeitpunkt, um 14 Uhr, vermutlich 5 Stunden vor den Favoriten.

Erstmal bin ich überrascht, dass ich nach einem Kilometer an der Spitze laufe, aber da es leicht geht, will ich nicht bremsen. Zu zweit mit Carsten, der extra(?) aus Kanada zu diesem Lauf angereist ist, jogge ich über den Zinnkopf. Hier ist die Trailpassage über die Wiese trocken wie selten, das Gras vergleichsweise kurz, so dass es leicht geht wie selten zuvor. Auch der Kamm mit der wunderschönen Aussicht in die Alpen und auf den Chiemgau und praktisch ganz Bayern ist frei von Baumfäll-Resten, so dass man wirklich entspannt und zügig zum Zinnkopf joggen kann.

Auch der lehmige Abstieg ist trocken und damit gut zu laufen. Nichts scheint uns heute aufhalten zu wollen. Der Schweiß rinnt in der mit Feuchtigkeit gesättigten warmen Luft in Strömen, aber für diesen Fall trägt man ja Wasser mit sich. Also joggen wir zügig durch bis zur Verpflegungsstation in Hörgering.

Abendprogramm

Während ich hier, bei Kilometer 18, in der Garage von Uli, dem einzigen, der noch keinen Lauf des Chiemgauer 100 versäumt oder abgebrochen hat,  zwischen dem reichhaltigen Nahrungsangebot umherstapfe und nach und nach verschiedene Getränke in mich reinschütte, fällt mir gerade noch ein, dass ich auch etwas als Drop-Bag hier deponiert habe: eine Tüte Datteln.

Während ich die gut erreichbar außen in meinen Rucksack stecke, bemerke ich, dass unser Vorsprung nicht groß war. Vielleicht holt mich der oder die andere demnächst ein. Carsten ist längst außer Sichtweite, als ich mich in Bewegung setze. Dabei habe ich diesmal kaum etwas gegessen. Das Essen der letzten Tage und die Spaghetti von heute Mittag müssten noch bis zur Stoiber Alm reichen. Und bis dahin ist es nochmal so weit.

Auf der schattigen, einfachen, mal flachen, mal leicht ansteigenden Strecke bis zum nächsten Kontrollpunkt an der Rechnerhütte treffe und sehe ich keinen Menschen. Für einen Spaziergang ist es einfach zu schwül, ich schwitze ja auch in Strömen. Das ist bei mir ein gutes Zeichen – ich muss nur meinen Wasserbedarf halbwegs richtig erraten.

Am Kontrollpunkt trinke ich Wasser und verschiebe das Auffüllen der zweiten Wasserflasche bis zu der Hütte am Anstieg zur Stoißer Alm. Eine volle Flasche habe ich sowieso noch. Als ich mich kurz vor Hammer an einem Brunnen abkühle, sehe ich, dass Kathrin knapp hinter mir ist. Die war letztes Jahr Zweite. Sogar im Dorf Hammer scheint heuer weniger los zu sein als sonst. Im Biergarten sitzen nur ein paar halb durchgerosteten Senioren. Selber schleppe ich meinen Wasserbauch für meine Verhältnisse zügig zum Panoramaweg hoch, wo mich Kathrin endlich überholt.

Beim eingeplanten Tankstopp an der bewohnten Hütte sehe ich sie noch mal, dann geht’s zum frustrierendsten Anstieg der Strecke: Die gewundene gepflegte Forststraße ist im Prinzip durchweg laufbar, aber mein Körper ist auf Ultradistanz eingestellt und erlaubt meinen Beinen keinen Laufschritt. Ich bin nicht schneller als irgendein Spaziergänger. Der Kollege, der mich einholt, spaziert daher auch nur kurz neben mir und will mir nicht so recht glauben, dass nur zwei Leute vor uns sind.

Am Silbersee, wo die Strecke ein Stück weit flach verläuft, empfiehlt mir Kathrin das frische Wasser aus dem gut laufenden Brunnen (der von der Strecke aus nicht sichtbar ist!). Sie hat recht, dass über Brunnen an der Stoißer Alm nicht viel hergibt, aber ich baue auf einen ergiebigen Hüttenbrunnen viel weiter unten, wo der Weg scharf rechts zur Steiner Alm abzweigt.  Schließlich habe ich momentan noch deinen Dreiviertelliter Wasser bei mir. Heuer laufe ich mit einem Liter Tankkapazität, doppelt so viel wie im letzten Jahr.

Nach den Seen geht es sehr bald richtig hoch, steil durch den Wald nach oben, oben, steil, oben, hoch. Dabei liegt die Stoißer Alm doch nur auf gerade einmal 1300 Meter Meereshöhe. Weiter oben geht es leicht bergauf und bergab über Berg-Waldpfade immer mehr oder weniger am Bergrücken entlang, bis das Handy einen in Österreich willkommen heißt (was geographisch und politisch gesehen eine Falschmeldung ist). Dann geht es am Waldrand noch ein Stück einen gepflegten Wanderweg hoch, bis die Markierungen rechts hinunter auf einen Weg zur Stoißer Alm zeigen.  Die sieht man auch gleich unter sich liegen – wenn man sich nicht zu sehr von dem Bergpanorama ablenken lässt, das sich gleichzeitig im Hintergrund auftut.

Hier und jetzt sollte man in Ruhe seine Brotzeit auspacken und ruhig so eine Stunde lang einfach die Umgebung genießen , während der Körper sich von dem anstrengenden Aufstieg erholt. Nein, ich bin in einem Rennen und laufe zur Hütte. Dort gibt es Wasser und für mich ein paar Datteln.  Wer will, darf natürlich auch in der Hütte einkehren. Das machen einige. Bei so einem extremen Ultra ist das nichts ehrenrühriges, sondern eine Frage der individuellen Zeiteinteilung. Während ich am Wassertank stehe, holen mich ein paar Läufer ein, unter anderem Anke, die die Chiemgauer 100 Meilen schon öfter gefinisht hat als alle anderen Frauen zusammen. Die macht sich Sorgen, dass sie ihre zerstörte Startnummer nicht mehr regelgemäß deutlich sichtbar anbringen kann.  Ich bezweifle, dass das in ihrem Fall ein Problem sein wird.

Nach einem letzten Blick auf den Chiemgau und den Chiemsee links und die Chiemgauer und Berchtesgadener Alpen rechts geht es eine anfangs steile Forststraße hinunter. Hier versuche ich, locker zu bleiben, keine Kraft zum Bremsen aufzuwenden, und bin überrascht, dass Anke erst mal zurückfällt. Erst ein gutes Stück später, als die Forststraße gerade leicht ansteigt, läuft, nein, spaziert sie an mir vorbei, mit den Stöcken hinten am Rucksack. Interessehalber versuche ich, mit Laufen und mit Hilfe meiner Stöcke kurz mitzuhalten. Keine Chance. Ich esse noch ein paar Datteln und trotte so rhythmisch und zügig wie möglich weiter.

Mein anvisierter Tankbrunnen speit nicht ganz so viel Wasser wie sonst, aber es reicht. Bei Tageslicht ist der Wanderweg mit den vielen Treppchen und Bohlen, von denen inzwischen schon einzelne fehlen, noch schöner zu laufen. Nach und nach schlägt das Wetter um. Zur Abenddämmerung ist es bewölkt und ein wenig windig, und irgendwoher kommen vereinzelt Regentropfen. Und mit dem Tageslicht lässt vorerst die Konzentration nach. An einer scharfen Linkskurve sehe ich vor mir etwas blinken. Eine Leuchtmarkierung? Wenn ich richtig hinschaue, ist das, was da in Augenhöhe orange leuchtet, aber nur keine Markierung, das sind frische Schnittflächen. Und der Weg vor mir ist vermutlich eine nagelneue Stichstraße, die irgendwo im Wald endet. Vorsichtshalber schalte ich trotzdem mein GPS ein, laufe aber auf dem „richtigen“ Weg weiter, während ich noch ein paar Datteln kaue. Bald nehme ich wieder Fahrt auf, erreiche den letzten Steig vor der Steiner Alm.

Eine halbe Minute, nachdem ich das Gatter über der Alm passiert habe, höre ich ein Geräusch, als ob es erst jetzt zuschlagen würde. Bei dem steinigen Abstieg höre ich dann, dass ich verfolgt werde. An der Alm selber haben Ulrike und Anton mich dann eingeholt.

Ein schöner Platz ist das bei Tageslicht! Heute hätte sogar die Bar noch auf. In den letzten Jahren habe ich die Kontrollposten mehr gehört als gesehen, und die Umgebung außerhalb meines Scheinwerferkegels war einfach schwarz. Die Kontrolleure meinen, es sei auch selten, dass bei Tageslicht schon Läufer vorbeikämen. Und was sei eigentlich heuer los? An der Spitze laufen lauter Frauen (Anke und Kathrin, und jetzt praktisch auch Ulrike).

Zum Bayrischen Stiegl hoch sinkt man heuer kaum ein. Da setze ich mich erst mal wieder ab. Am Abstieg nach Adlgass bin ich sowieso schnell unterwegs.  Hier halte ich mich trotz des üppigen Buffets nur kurz auf (für meine Verhältnisse zumindest), packe eine neue Ration Trockenobst ein, und setze auf die Kartoffeln auf der Köhler Alm.

Sommernacht

Nicht wirklich Champion’s League

Auf dem anfangs sehr gemischten Anstieg hört und fühlt es sich so an, als würde ich von einem Gewitter verfolgt, also als wäre es vernünftig, schnell hinauf und wieder hinunter zu kommen. Einmal bemerke ich, dass meine Startnummer schief hängt. Die hatte ich mit 4 Sicherheitsnadeln an einem Rucksackriemen quer über den Bauch befestigt. Jetzt ist das Papier völlig durchgeweicht – obwohl es kaum Körperkontakt haben konnte -und 2 Nadeln sind ausgerissen. Ich falte den Zettel an einer Ecke und hefte die lose Ecke wieder mit 2 Nadeln an. Zwischendrin kommt mir Wolfgang mit dem Mountainbike entgegen. Der hat offensichtlich inzwischen ganz von Läufer auf Helfer umgesattelt. Ulrike überhole ich am letzten felsigen Anstieg einige Kehren vor dem Sattel.  Kartoffel, Gemüsebrühe und Gummibärchen lasse ich mir in der immer wieder gemütlichen Atmosphäre besonders gut schmecken, fülle meine inneren und äußeren Wassertanks auf, und mache mich an den steilen steinigen Abstieg.

Eigentlich ist es schade, dass man hier nur nachts durchkommt. Ich war schon mal bei Tageslicht auf dieser Almwiese. Schöner geht’s nicht.

Der Abstieg ist dank einer guten Lampe und viel Übung auch schön – und unfallfrei, und bald geht es auf einer Forststraße weiter. Hier habe ich das Gefühl, dass ich auch so einigermaßen zügig vorankomme.

Auch der leichte Trail nach dem Bauernhof am Jochberg und die Almwiese über der Höllenbachalm sind leicht zu laufen, so dass ich gefühlt recht bald an der Treppe kurz vor der Bundesstraße bin. Hier geht es steil aber nicht weit hoch und dann auf einem schmalen leichten Trail ein Salzwasserrohr entlang bis kurz vor dem Hotel Mauthäusl.

Hier gibt es interessante Bodenmalereien zu bestaunen: Eine andere Veranstaltung hat ihren Weg auch mit einer hellroten Farbe markiert, die Pfeile allerdings mit einem „CL“ kommentiert. Da ich mich nicht wie Champions League fühle und außerdem den Weg kenne, ignoriere ich die einfach. Dass die andere eine völlig andere Farbe haben, nämlich Orange statt unser Pink, ist mir beim besten Willen nicht aufgefallen.

Das mit den Farben erklärt uns gleich Gi, der Rennleiter, der gerade am Matthäus nach dem Rechten schaut. Bis ich hier meine Suppe und noch ein paar Kleinigkeiten gegessen und meine Lampenbatterien gewechselt habe, haben mich einige Läuferinnen und Läufer schon wieder überholt. Selber habe ich ein Gefühl im Magen, das mir dazu rät, vor dem Essen ein wenig herunterzukühlen, um eine spontane Wiedergabe des Mageninhalts zu vermeiden, Dam folge ich und lasse mir ein wenig Zeit. Eine Alternative wäre, vorerst gar nichts zu essen. Auf die kann ich später immer noch zurückgreifen.

Ab jetzt geht es einige Kilometer weit mehr oder weniger flach am Weißbach entlang. Leider bin ich so aus dem Rhythmus, dass ich nur noch im Schritttempo vorankomme, gerade jetzt, wo man sehr leicht ein wenig Tempo machen könnte. Die Strecke ist sehr nett, mal ein schmaler Steig, mal eine Brücke, mal ein gepflegter Park, mal ein alter Tunnel, mal eine Treppe, nie so lange gleich, dass es eintönig werden würde.

Auf einmal gibt es eine Spitzkehre, unter der Hauptstraße durch, am Gasthof Zwing vorbei auf den Steig zur Kaitlalm. Der geht erst einmal kräftig aber nicht übertrieben steil aufwärts und wird nach und nach immer flacher und schmaler. Die technische Schwierigkeit ist so moderat, dass man schon laufen könnte, zumal man den tiefen, steilen Abhang direkt zur Linken ja im Dunklen nicht so sieht. Hier treffe ich Ulrike wieder, die mich im Flachen völlig abgehängt hat, aber jetzt die Batterien wechseln musste.

Diesmal kommt mir der Steig doppelt so lang vor wie sonst, ist aber schön locker zu laufen. Die paar Stufen und schmalen Stellen bieten willkommene kurze Verschnaufpausen. Erst auf dem Stück Forststraße zur Kaitlalm schalten meine Beine wieder auf stur Schrittgeschwindigkeit, obwohl ich endlich Tempo machen möchte, um mal zeitig im Stadion zu sein.

Am Kontrollpunkt Kaitlalm entspricht die Uhrzeit exakt meiner Startnummer: 3:41. Die 7 Kilometer müssten doch wenigstens bis 5 Uhr zu machen sein. Den Großteil der Verpflegung, der hier jedes Jahr reichlicher wird, überlasse ich meinen Laufkollegen, und starte einen Zwischenspurt. Am ersten Flachstück biete ich den beiden Laufkollegen, die gerade hinter mir sind, ein wenig Windschatten, ignoriere den Beinahe-Sturz durch einen nachgebenden großen vermeintlichen Trittstein, setze mich bergab ein wenig ab. Das ist wieder ein sehr nettes Stück Waldweg. Zwischendurch gibt es ein relativ flaches Stück Forststraße. Hier werde ich überholt und verliere die anderen sofort aus dem Blick. Auf dem letzten steilen Abstieg durch den Wald überhole ich noch einmal Ulrike. Die zieht natürlich auf der Traun-Forststraße gleich wieder locker an mir vorbei. Vielleicht sollte ich doch mein Training überarbeiten. Die zwei einfachen, flachen Kilometer zum Stadion werden sehr, sehr lang. Mir geht es schon noch gut, aber ich finde den zweiten Gang nicht, während die Sonne aufgeht.

Erst um 5:07 Uhr bin ich im Stadion. Gut, so schnell war ich noch nie, und noch sind erst sechs Laufkolleginnen und -kollegen vor mir, aber da war noch mehr drin.

Zu später früher Morgen

… nach einer durchgemachten Nacht

Ich sehe gerade noch Ulrike, die eine letzte Stärkung nimmt, bevor sie zum Unterberg aufbricht. Kathrin hat eine länger Pause eingelegt, um ihre Blasen zu versorgen, sich aber überreden lassen, erst mal noch weiterzulaufen. Tom Wagner, der mehrmalige Sieger auf der 100-Meilen-Strecke, ist der erste Läufer aus einer späteren Gruppe, der mich einholt. Ich schätze, dass er fünf Stunden nach mir gestartet ist.

Die Wand

Nach einer kleinen Stärkung bin ich auch unterwegs zum Unterberg. Kurz vor dem Anstieg ist eine Bank am Wegrand. Dort treffe ich Ulrike wieder. Die erzählt, dass sie aufgeben will, weil ihr vorhin beim Laufen die Augen zugefallen seien. Ich erzähle ihr (aus eigener Erfahrung), dass das nicht so außergewöhnlich ist, und ihre Idee mit einem Nickerchen – oder Powernapping oder wieauchimmer – gar nicht schlecht.  (Am Ende wird sie mir eineinhalb Stunden abnehmen.)

Inzwischen joggt Tom locker vorbei. Kurz später sehe ich, wie er ein gutes Stück weiter oben locker an Kathrin vorbeispaziert. Das sieht bei beiden so mühelos aus. Selber kämpfe ich bei dem steilen Anstieg um jeden Meter und finde einfach keinen Rhythmus.

Sonst bin ich bergauf vielleicht langsam, aber locker und mehr oder weniger mühelos unterwegs. Momentan habe  ich das Gefühl, keinerlei Kraft mehr zu haben und schon auf Reserve zu laufen.

—— Das war wohl der Fehler: Kraft hat bei so einem Lauf keinerlei Rolle zu spielen, alles ist Rhythmus und Konzentration. Hat der Schreck, dass heute der Hochfelln realisierbar sein könnte, mein Hirn durcheinandergepustet?  Einmal laufe ich diesen Anstieg nicht in Backofenhitze, und da macht die Koordination schlapp.

Irgendwann bin ich doch am Sattel und mache mich auf in Richtung Hörndlwand.

Trocken ist der oft recht matschige Pfad heute, also eigentlich gut zu laufen. In Tritt komme ich aber immer noch nicht. Früher besonders sumpfige Passagen sind jetzt sauber und ordentlich mit Schotter aufgefüllt. Das müsste mir vom Training am Isar-Flussbett her liegen. Theoretisch. Vor der Brander Alm werde ich überholt – von Wanderern. Als sie an der Alm Wasserkanister auffüllen, bemerke ich, dass sie zu den jungen Leuten gehören müssen, die uns am Hörndlwandsattel mit Wasser versorgen. Die bewundere ich immer besonders für ihren Einsatz.

Sie meinen, ich könne schon vorlaufen, die Station sei schon besetzt. Am letzten Anstieg vor der Alm muss ich sie trotzdem vorbeiziehen lassen. Dabei haben sie jetzt volle Kanister im Rucksack! Unheimlich ist mir, dass mich trotz Schneckentempo seit dem Stadion außer Tom noch kein Läufer überholt hat. Ist hinter mir etwas passiert? Vielleicht schon letzte Nacht? Bin ich knapp einem Gewitter entkommen, das die anderen aussitzen mussten?

Zeitlupe oder Zeitraffer?

Genau am Hörndlwand-Sattel holt mich der erste Hundert-Kilometer-Läufer ein, obwohl ich hier nach je einem Becher Wasser und Iso gleich weiterlaufe. Noch vor dem Abstieg zieht der zweite an mir vorbei. Ich sehe noch, wie er die tiefen Stufen hinabspringt, bevor er meinem Sichtfeld entschwindet. Schließlich muss ich mich jetzt selber auf den Abstieg konzentrieren. So geht es im Minutentakt weiter. Die Jungs hüpfen die steile, steinige, von Wurzeln überspannte ausgewaschene Abstiegsrinne hinunter wie die Gämsen. In den letzten Jahren hatte ich hier gedacht, ich wäre schnell, weil ich die die Nachhut der 100-Kilometer-Läufer wieder eingesammelt hatte. Aber heute komme ich mir vor wie eine Schnecke. Trotzdem jogge ich zügig über Stock und Stein bergab. Richtig langsam werde ich erst wieder, als es flach auf einer Forststraße auf die Verpflegungsstation Röthelmoos zugeht.

Jetzt holen mich auch einzelne Hundert-Meilen-Läufer ein, unter anderem die Vorahressiegerin Nicole, die eine Stunde später gestartet ist. An der Station, die wieder zum Verweilen lockt, halte ich mich so kurz wie möglich auf. Ich will so bald wie möglich den Anstieg zur Jochbergalm hinter mir haben, eine sich ewig windende Forststraße, eigentlich einfach laufbar, aber nach 105 Kilometern einfach ermüdend. Wenigstens fallen mir heute nicht die Augen zu. Das kann an dem vielen Cola liegen, das ich in Röthelmoos getrunken habe, oder an der relativ frühen Uhrzeit. Trotzdem scheine ich der mit Abstand langsamste zu sein. Einer der Läufer, die mich hier überholt haben, kommt mir sogar schon wieder entgegen. Vorbei – meint er. Das Phänomen, dass man sich ausgerechnet auf den einfachsten Passagen verletzt, kenne ich aus eigener Erfahrung.  An der Alm meint eine der Betreuerinnen, sie hätte mich hier oben schon viel blasser gesehen. Das Foto zeigt einen Martin mit greisenhaften Gesichtszügen. Wie habe ich hier in den letzten Jahren ausgeschaut???

Egal. Nach einem Becher Wasser geht es weiter zum Hochsattel. Bis oben dürfte mich inzwischen fast das ganze Feld überholt haben. Der Anstieg über die Almwiese ist trotzdem wunderschön, und die Aussicht auf der anderen Seite praktisch nicht zu überbieten. Eigentlich schade, dass der langgezogene Abstieg die volle Konzentration auf den schmalen steinigen Bergpfad erfordert. Bis zum nächsten Forstweg halten sich einige paar Laufkollegen hinter mir. Dort lasse ich sie ziehen, während ich ein paar Trockenfrüchte kaue. Mein Gefühl sagt, das muss jetzt sein.

Hinter der Bischofsfelln-Alm beginnt ein ausgewaschener Trail, der nach einer Almwiese bald kräftig bergab führt. Ich versuche, die steilen Stufen zügig aber verletzungsfrei hinunterzulaufen. Da sehe ich Nicole vor mir, die eigentlich schon längst über alle Berge sein müsste. Sie erzählt mir, dass sie verletzt ist – genau genommen seit Wochen – und vor hat, bei der Station Kohlstatt auszusteigen. Früh wie nie lande ich in Sichtweite der Verpflegungsstation Eschelmoos auf der Forststraße. Das Gelände, einfach und stellenweise relativ steil bergab, liegt mir normalerweise sehr gut. Da kann man entspannt und ohne Kraftaufwand schnell vorankommen. Scheint’s bin ich jetzt, nach 110 Kilometern, schon ein wenig eingerostet. Das müsste sich leichter anfühlen. Und die Kollegen dürften mich nicht gar so mühelos überholen.  Trotzdem fühle ich mich an der Verpflegungsstation Kohlstatt noch recht gut. Die Atmosphäre wirkt – neben dem abaechslungsreichen reichhaltigen Buffet – zusätzlich motivierend und aufbauend. Und hier wird jeder Läufer, der sich wieder auf den Weg macht, kräftig angefeuert.

Ernüchternde Skipiste

Dieser Weg führt erst einmal über ein Brücklein, dann ein Stück leicht bergauf durch einen Wald, und dann eine Wiese hoch – gefühlt senkrecht. Dieser steile Wiesenpfad ist heuer relativ einfach: Es ist ziemlich trocken, und das untere Stück ist stellenweise gemäht, wodurch die Stöcke benutzt werden können,  weil sie sich weder in den Boden eingraben, noch sich im dichten Gras verfangen. Aber auch hier finde ich keinen Rhythmus, ziehe mich mühsam Schritt für Schritt hoch, mache stellenweise Pausen, die Strecke zur Straße, auf die man irgendwo mitten in dem Hang stößt, wirkt weiter denn je.

In der Form würde ich allein zum Hochfeld hoch mehrere Stunden brauchen. Da müsste ich jetzt schon am Anstieg sein. Da fehlen also mehrere Stunden. Ich werde folglich heute definitiv nicht weiter als 141 Kilometer laufen. Außerdem müsste ich dringend auf die Toilette. Das ist hier gar nicht so leicht: Entweder hat man praktisch undurchdringbares Gestrüpp, oder einen steilen Abhang. Dann fängt es auch noch zu regnen an – was sich schon seit Stunden abgezeichnet hat. Als ich endlich einen Platz außerhalb der Straße finde, ist meine Motivation so richtig weg. An der nächsten Hütte mit Brunnen, in Sichtweite zur Gleichenberg-Alm, beschließe ich, meine Wasserflaschen aufzufüllen. Gerade jetzt duscht es richtig, gießt von einem Moment auf den anderen wie aus Kübeln. Gerade jetzt stehe ich unter einem schützenden Vordach.

Habe ich nicht noch ein paar Gels irgendwo in meinen Taschen? Ich setze mich zum Suchen auf die trockene Bank. Der Regen stürzt wie ein wehender Vorhang vom Himmel. Unten spazieren Grüppchen von Menschen mit mehr oder weniger bunten Jacken und Stöcken vorbei. Sind heute doch so viele Wanderer unterwegs? Vermutlich sind es Laufkollegen vom Chiemgauer 100. Ohne Startnummer sind wir praktisch nicht zu unterscheiden.  Ich unterhalte mich mit einem Mountainbiker über Radmarathons. Wieso ist es mir momentan so egal, dass ich jetzt vom Rest des Feldes überholt werde? Noch dürfte ich früh genug dran sein, die 140 Kilometer zu finishen. Ja, an die Dolomitenpässe kann ich mich noch erinnern, an praktisch alle, und an die Ortschaften dazwischen, obwohl das alles mindestens 20 Jahre zurückliegt.

Der Regen lässt tatsächlich bald nach. Ich wasche die von den Gels klebrigen Hände im Brunnen, fülle meine Flaschen auf, und laufe weiter.

Einfach auslaufen

Gleich nach der Gleichenberg-Alm geht es nach rechts über die Wiese durch ein Viehgatter in einen Waldweg. Hier geht es mehr oder weniger flach zu einer Seilbahn-Mittelstation. Ab jetzt ist der Weg vorerst wieder zwischen parkähnlich gepflegt und Forststraße – bis es nach gefühlt ein paar Kilometern vom Hauptweg rechts leicht bergauf geht, erst auch noch auf Forststraße, dann auf einen frisch gepflügten Lehmweg. Letztes Jahr war hier noch Gras, und man ist einfach immer wieder kurz stecken geblieben. Heute hat man die Übersicht, und kann sich vorstellen, wo man wie tief einsinkt. Ich agiere reichlich ängstlich. Eine Läuferin fragt, ob meine Schuhe fest genug gebunden sind. Ja, im Prinzip weiß ich, dass es sinnvoll wäre, einfach zügig am Rand zu laufen.

Danach ist es wieder einfach, sogar für mich, und wenn ich könnte, wäre das Gelände geeignet, um etwas zügiger zu laufen. Der nächste Kontrollpunkt bietet wieder Wasser und nasse Helferinnen, Helfer und Salzstangen.  In Maria Eck sind die Herausforderungen, daran zu denken, dass es auch Autos auf der Straße gibt, und natürlich, dass man nach der Ortschaft zum richtigen Zeitpunkt vom geschützten Radweg aus die Straße überquert – zum nahen Verpflegungspunkt. Als ich ankomme, macht sich gerade ein Grüppchen sehr eilig auf den Weg. Vielleicht versuchen die, den Cut in Egg zu schaffen. Eine Dreiviertelstunde hätten sie für die acht Kilometer. Wenn sie im Gegensatz zu mir noch frisch und schnell sind … das ist kein schwieriger Streckenabschnitt.

Ab hier muss man nur die nächsten paar Abzweigungen überstehen, ohne sich zu verlaufen, dann ist man auf einem weitgehend flachen Weg, der durch einen Wald, an einem Hang entlang bis zu den Gehöften um Ruhpolding führt. Letztes Jahr ist hier stellenweise ziemlich viel Wasser gestanden, einmal hab ich mich nicht getraut, einen angeschwollenen Bach zu überqueren. Heute ist alles harmlos. Und ohne Zeitdruck unterwegs zu sein, macht ein lockeres Gefühl.

Zwischendurch geht es mal relativ steil einen Wirtschaftsweg hinauf zu einem Grundstück mit Garten. Hier spricht mich eine ältere Frau an, die mich ihrem niederländischen Feriengast vorstellen will. Sie weiß genau, dass das hier ein Wettkampf ist. Sie hat selber schon Teilnehmer an dem Rennen beherbergt. Aber höflich wie ich bin, quatsche ich eine gefühlte halbe Stunde mit den beiden. Trotzdem ist es noch taghell, als ich die Station in Egg erreiche.

Hier lasse ich mir ein wenig Zeit, weil ich immer noch genug davon habe, und mache mich dann auf den Weg in die nasse Nachbarwiese. Ist es so üblich, dass man bei Regenwetter von einem Elektrozaun auch eine gewischt bekommt, wenn man ihn an einer Isolierung anfasst? Drei noch wesentlich frischere 80-Kilometer-Läufer helfen mir, das Hindernis heil zu überwinden. Endlich sehe ich den unheimlichen steilen Waldabstieg nach Ruhpolding mal bei Tageslicht. Da geht es ja praktisch geradeaus! Ich möchte eine Verletzung auf alle Fälle vermeiden, und klettere sehr vorsichtig die steilen Stufen hinunter – übervorsichtig mal wieder. Die drei sind sehr bald außer Sichtweite. Dabei habe ich Schuhe an, deren Stollenprofil zurzeit mit das griffigste am Markt sein dürfte. Auf Walderde dürfte da nicht viel rutschen.  Und die Oberschenkel ziehen zwar bergab ordentlich, aber der Schmerz hält sich so weit in Grenzen, dass mich das nicht behindern dürfte.

Egal, ich komme heil unten an und genieße das letzte Flachstück (halte ich für angenehmer, als sich zu quälen). Zum Glück hat die Windbeutelgräfin gerade nicht auf, sonst wäre mein Ankommen im Stadion doch noch in Gefahr. Die Schilder des Sagenwegs überfliege ich nur, und irgendwann in der Abenddämmerung bin ich tatsächlich im Stadion, wieder nach der Bambinirunde, aber gesund, mehr oder weniger munter und hungrig und durstig.

Heute reicht es noch ganz leicht zu einer kräftigen „Nudelsuppe“ im Stadionstüberl. Der Wirt wundert sich, dass ich heute viel früher dran bin als im letzten Jahr. Wenn ich die 100 Meilen geschafft hätte, wäre es später geworden. Kolleginnen und Kollegen empfehlen mir die Massage. Sie haben nicht übertrieben. Die Behandlung von einer der netten Masseurinnen tut erst einmal wirklich gut. Und jetzt werde ich gut schlafen, ob es morgen einen Muskelkater geben wird, oder nicht, und nach dem Frühstück geht es zum Nachtreffen, auch Siegerehrung genannt. Und nächstes Jahr am letzten Juli-Wochenende…

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