Zu schön zum Schlafen gehen
Ich laufe jetzt zum Stadion, dann gebe ich auf. Nein, mir geht’s nicht schlecht, ich bin einfach müde, wie nach einer langen, wunderschönen Bergwanderung. Ich habe die Bettschwere für acht Stunden herrlich erholsamen Schlaf.
Nein, es ist nichts persönliches. Ich hatte eine schöne, streckenweise sehr flotte Wanderung über fünfundachtzig Kilometer, und mir ist es dabei nie schlecht gegangen. Punkte für irgendwelche wichtigen Läufe brauche ich nicht. Zum Laufen in die Berge fahren werde ich so und so wieder. Die Erinnerung daran, dass ich noch an Technik, Training, Taktik und Strategie feilen muss, kann ich auf jeden Fall als Gewinn mitnehmen.
Am Taubensee steht ein Herr in knapp meinem Alter und applaudiert. Das Stadion kommt näher. Ich spüre eine Wade, weiß aber, dass das mich nicht behindern würde. Im Stadion gibt es wieder Applaus. Der gilt vorwiegend dem Hundertkilometerläufer hinter mir, dem ersten, der mich einholt. So schnell war ich noch nie dran.
Jemand fragt, wie es mir geht.
Müde, saumüde, als ob ich die Nacht durchgemacht hätte. Vermutlich erzähle ich die dämliche Geschichte mit der Lampe. Und dass ich im Stehen einschlafen könnte.
Und jetzt?
Ich stehe mit dem Blick zu Unterberg und Hörndlwand, die vereint und furchterregend hoch und steil vor mir in der Morgensonne aufragen – praktisch in Reichweite, nein in Reichweite.
Es ist früh und schönes Wetter .
Ich werde eine Bergwanderung über Unterberg und Hörndlwand machen, dann sehe ich weiter.
Das nenne ich eine gute Einstellung.
Möglich. Und ich werde euch nicht erzählen, was ich vor fünf Minuten vor hatte. Auf zum Unterberg!
Aber erst eimal gehen wir zurück zum Anfang:
Premiumwetter nach Ansage
Die Wettervorhersage für heute Abend ist trocken.
Lachen unterbricht das Briefing.
Einzelne aber große Regentropfen, die auf den Biergartenschirmen und den Köpfen einzelner Hundertmeilenkandidaten aufschlagen, sind die Ursache. Um einen Geländeläufer zu unterhalten, braucht es nicht mehr als ein wenig Natur. Zusätzlich verspricht Gi, dass für das moderat erhöhte Startgeld noch ein paar Hindernisse in Form gefällter Bäume über dem Weg liegen werden.
Da erst fortgeschrittener Mittag ist, hat der Wetterdienst noch eine Chance, seine Glaubwürdigkeit zu behalten. Als ich mich noch eine gute Stunde lang hinter den Zelten der Laufkollegen auf meine Campingmatte lege und dösend meinen von der Arbeitswoche heißen Kopf herunterkühlen lasse, ist es schon wieder angenehm warm und trocken. Wieder werde ich eine Stunde nach der ersten Gruppe starten. Ich weiß, dass ich mich ärgern werde, wenn ich dadurch knapp ein Zeitlimit reisse, aber so starte ich mit kühlem Kopf und perfekt eingestimmt.
Diesmal muss ich mich nicht einmal hinter die überschaubare Gruppe zurückfallen lassen. Gut, ein Knie beschwert sich, aber das wird sich geben. Sobald es leicht bergauf geht, werde ich sogar relativ gesehen schneller, ohne spürbar Kraft aufwenden zu müssen. Das hatte ich in diesem Feld noch nie.
Sobald es links zum eigentlichen Anstieg geht, fahre ich die Stöcke aus und übe Anschieben. Die Arme halten den Rhythmus und helfen, dass die Beine immer noch keine Kraft brauchen.
Die Abzweigung, wo man links das Innzeller Eisstadion sieht und rechts die Waldschneise hoch muss, ist diesmal idioten-, ja martinsicher markiert. Als ich mich an dem steilen fast weglosen Anstieg einmal umschaue, sehe ich zwei Grüppchen hinter mir. Der breite Grat mit Blick auf die Bergwelt links und den Chiemgau rechts ist diesmal aufgeräumt und so eben, dass ich gefahrlos auch laufend die Aussicht genießen kann.
Kurz vor dem Gipfel werde ich geblitzt. War ich so schnell? Das Knöllchen lass ich mir einrahmen!
Die Aussicht an dem herrlichen Rastplatz genieße ich nur für einen Schluck Wasser. Der steile tief ausgespülte Pfad hinunter ist heute praktisch trocken und problemlos zu laufen. Bei einer Verzweigung bin ich mir nicht sicher, und bemerke zwei Kurven weiter, dass ich tatsächlich falsch bin. Das wird nicht kriegsentscheidend sein.
In Hörgering, wo die Frau des Laufkollegen von Großmann den Kontrollposten als Vollverpflegungsstation unterhält, nehme ich meinen Drop Bag mit Lampe und Marschverpflegung in Empfang, esse ein paar Stück Kuchen, und renne weiter.
Die schattige, meistens leicht ansteigende Strecke zur Lechnerhütte hat wie versprochen ein paar frisch gefällte Baumstämme als Hürden, aber nur einzelne, keine Kletterstapel. Ich denke an Berichte über Läufe einer Bonbonfirma, wo es außer Hürden, Wasserpassagen und tiefem Schlamm auch Elektroschocks geben soll, und hoffe, dass Gi die Strecke nicht in diesem Sinn weiterentwickelt.
Die Markierung auf der von zahlreichen Wegen gekreuzten Strecke mit bis zu sechsfachen Forststraßenkreuzungen sind so gut, dass meine Bedenken bezüglich des streikenden GPS schwinden. Verhext finde ich das trotzdem: Zweimal hat mich das fast wöchentlich benutzte Teil in den letzten zwei Jahren im Stich gelassen, beide Male beim Chiemgauer 100.
Am Ausgang von Hammer verkaufen Kinder Limettennektar. An einer Hütte erzähle ich einer überholenden Läuferin, dass das die letzte Tankstelle vor den Silberseen sei. Am letzten Anstieg zur Stoisser Alm überhole ich zwei früher gestartete Kollegen. Am Abstieg zur Alm muss ich einen elektrischen Weidezaun passieren. Also doch was mit Strom. Gi hat keine Kosten gescheut. Was ich zu dem Zeitpunkt nicht weiß: Die Starter aus der ersten Gruppe mussten den Stadionzaun überklettern; und später wird richtig im Hochvoltbereich gearbeitet werden.
An der Hütte fülle ich nach einem kurzen Ratsch meine Flasche auf, und renne mit flüchtigen Blicken auf die traumhaften Landschaftsszenarien links und rechts, Chiemgau und Alpen, weiter. Das Tageslicht möchte ich so weit wie möglich nutzen.
Heute bin ich gut unterwegs. Kurz nachdem ich an dem pulsierend Wasser speienden Brunnen vollgetankt habe, überholt mich Nicole zum ersten Mal. Als der Weg in einen Pfad abzweigt, dämmert es merklich, aber diesmal habe ich ja die Hüfttasche, in der ich meine Lampe deponiert habe. Die Stufen der langen Holztreppe sind heuer richtig wackelig geworden. An der Steiner Alm gibt es wieder Wasser, und Nicole verschwindet endlich auf dem steilen Steig zum bayrischen Stiegel, der diesmal erfreulich laufbar ist, mich Schwergewicht aber trotzdem gelegentlich einsinken lässt.
Nachtlauf – Müdigkeit macht Fehler
Das reichhaltige Angebot in Adlgass nach dem erholsamen Abstieg nutze ich heute nur mäßig. Oben auf der Köhler Alm wird es ja wieder Kartoffeln geben. Aber etwas lerne ich hier endlich: Die Nudeln kann man mit Salzstangen aus der Suppe fischen! (wie mit Stäubchen)
Als ich meine Flasche fülle, kommt gerade Renndirektor GI an. Nach einer Minute Smalltalk mache ich mich auf zur Köhler Alm. Der Anstieg fällt mir heuer leichter denn je. Es ist ja angenehm kühl. Kurz vor dem Kamm kommt mir jemand entgegen. „Noch zwei Kehren, aber du kennst dich eh aus.“ Ach so, das ist Wolfgang, der heuer wieder Betreuer macht. Gegen das Licht der Stirnlampe sind die Gesichter kaum zu erkennen.
Oben bekomme ich Brühe und eine Blechschale mit drei mittelgroßen Kartoffeln hingestellt. Nach der zweiten Kartoffel komme ich auf die Idee, dass mir niemand angeschafft hat, alles aufzuessen. Aber es war fein, das beste mögliche Essen mitten in einem Ausdauerwettkampf. Und vor einem langen Abstieg darf die Portion gerne größer sein. Früher beim Rad fahren habe ich auch immer versucht, die großen Zwischenmahlzeiten auf eine Passhöhe zu legen.
Der Platz auf der Bank vor der Hütte ist urgemütlich, die Leute sind nett, aber ich will weiter. Jeder Läufer wird persönlich auf den richtigen Weg zum Abstieg gebracht. Dass der sehr steil und steinig ist, weiß ich, aber heute habe ich das Gefühl, dass ich besonders schlecht damit zurechtkomme. Eine Läuferin überhole ich aber trotzdem. Als es flacher wird, ziehen aber etliche an mir vorbei. Das werden die Schnellen von den späteren Startergruppen sein. Habe ich zu wenig in schwer laufbarem Gelände trainiert?
An dem schönen Weg hinter dem Jochberg sehe ich jemanden in Läuferkleidung im Gras liegen. Ich frage, ob alles in Ordnung ist, und biete ihm Gel oder Traubenzucker an. Er erzählt etwas von Magen und Darm und meint, zum Mauthäusl wolle er schon noch selber gehen. Als er aufsteht und sich in Bewegung setzt, bin ich beruhigt und laufe weiter.
Jetzt werde ich immer öfter überholt, und gefragt, ob alles in Ordnung sei. Offensichtlich ist mein Trab mal wieder sehr langsam geworden.
Die Wiese zur Höllenbachalm hinunter wird zur Herausforderung, weil ich ständig dabei bin, den Pfad zu verlieren. Auf der Forststraße setzt sich ein Laufkollege ein Stück weit neben mich. Dabei fällt mir auf, wie hell seine Lampe ist. Dagegen ist meine eine Funzel.
Kurz bevor die Forststraße in die Teerstraße mündet, geht es rechts eine längere Treppe hoch. Im Gelände schalte ich meine Lampe heller. Diesmal gelingt das nur für eine Sekunde, dann wird das Licht wieder schummrig. Meine Batterie ist am Ende, jetzt schon. Vermutlich hat das Licht schon seit Stunden nachgelassen, und ich hab’s nicht gemerkt, sondern auf ein Trainingsversäumnis oder schwache mentale Form geschoben. Ich krame beim schwachen Schein der verhungernden Lampe nach den Ersatzbatterien und finde dabei die Ersatzfunzel. Die ist für genau diesen Zweck gedacht und leuchtet auch nicht heller. Meine Sonnenbrille purzelt auf den Boden. Die brauche ich jetzt nicht, stecke sie aber trotzdem wieder ein. Die Ersatzbatterien sind tiefer im Rucksack. Am Mauthäusl habe ich auch noch einen Satz tragbaren Strom im Drop Bag. Ich beschließe, meine Stirn mit zwei Lampen zu schmücken, und den Batteriewechsel um einen Kilometer oder zwei zu verschieben.
Irgendwie habe ich in meiner alten Lieblingsdisziplin nachgelassen: Am Zinnkopf hatte ich einen Verhauer, und an der schönen Kohlstatt-Abfahrt hat mir der Weitblick gefehlt. Und schon ist absehbar, dass es eng wird mit den hundert Meilen.
Die Kollegen, die ich am Mauthäusl antreffe, bestätigen, dass sie mich schon beim Überholen als reichlich unterbelichtet identifiziert hätten.
Während eine nette Betreuerin mir einen Teller Suppe bringt, hole ich meinen Drop Bag und wechsle die Batterien aus.
Immer wieder verstärkt sich der Eindruck, dass die Markierung besser ist denn je. An und für sich könnte ich mich also rein auf das Laufen konzentrieren. Am Weißenbach werde ich in einem Fort überholt. Ich kann kein bisschen Geschwindigkeit mehr machen, und kann nur mit Mühe – und auch nicht dauerhaft – die Augen auf halten, obwohl ich mich gar nicht schlecht fühle, nur müde. Für ein sogenanntes Suppenkoma habe ich zu wenig gegessen; obwohl: wenn ich an all die Mahlzeiten denke…
Sollte ich künftig am Mauthäusl eine Biwakmatte deponieren? Zwanzig Minuten kontrollierter Schlaf, und dann nochmals am Stadion?
Sogar bergauf fehlt meinen Armen die Kraft zum anschieben. Mein Körper hat einfach auf Standgas geschaltet, und ich finde einfach keinen Weg, einen Gang einzulegen. Früher beim Rad fahren konnte ich mit dem Gefühl noch problemlos hundert Kilometer überstehen, wenn auch sehr langsam – aber notfalls sogar ohne Essen. Beim Laufen wird das nicht so weit gehen, aber ich muss mir keine Sorgen machen: Nicht die Erschöpfung wird mich aus dem Rennen nehmen, sondern höchstens eine Zeitbegrenzung. Damals hatte ich aber immer gedacht, das läge an zu wenig Essen. Das kann ich hier ausschließen.
Am Steig von Zwing zur Kaitlalm bin ich wieder allein. Irgendwie kommt mir heute alles besonders bröselig und abschüssig vor. Und schon wieder ist es bereits hell, als ich an der Kaitlalm bin. Die wackeren Streckenposten, die uns hier seit vor drei Uhr mit Getränken versorgen, erzählen, dass die ersten Läufer sogar zehn Minuten auf sie gewartet hätten. Offensichtlich bin heuer nur ich normal langsam.
Ein schöner Tag für einen Berglauf
Auf dem leichten Steig durch den Wald hinunter zur Traun, wo ich locker vor mich hin trabe, überholt mich leichtfüßig ein Kollege und verschwindet gleich wieder aus meinem Sichtfeld. Bin ich so am Ende? Eigentlich bin ich doch nur müde.
Das Stadion erreiche ich kurz nach 7 Uhr. Für die 100 Meilen bin ich wohl zu spät dran. Müdigkeit hin oder her: Zumindest die abgekürzte Runde müsste bei den heutigen Bedingungen zu machen sein.
Ich merke, dass ich keine Kraft habe, weder in den Armen noch in den Beinen. Rhythmus, nur der Rhythmus muss mich hoch bringen. Die fantastische Landschaft außen rum lenkt mich etwas ab, aber ich komme voran, und gar nicht schlecht. Die Hundertkilometersprinter überholen mich, aber ich weiß, das sind die schnellen, die die ganze angepeilte Runde schaffen werden.
Bemerkenswert finde ich, dass wir durchtrainierte Wettläufer hier nicht unbedingt schneller unterwegs sind als die Wanderer, von denen heute angesichts des herrlichen Wetters einige mit uns den Aufstieg teilen. Ich frage den jungen Mann, der öfters meinen Weg kreuzt, ob er in seinem riesigen Rucksack einen Gleitschirm trägt. Er hat die Aussicht auf so einen leichten Abstieg. Selber darf ich leicht bergab auf einem schmalen, heuer relativ trockenen Pfad zur Brandner Alm hinunterlaufen. Einmal bin ich so leichtsinnig, dass ich eine tiefere Pfütze unterschätze und meinen rechten Fuß samt Schuhen und Socken in Erdlösung wasche.
Wieso werde ich ab jetzt noch öfter überholt? Das ist mein Gelände. An den Brunnen ist gerade Rush hour. Niemand will sich ohne Wasser an den Aufstieg zur Hörndlwandscharte wagen.
Beim Anstieg habe ich das Gefühl, dass mich weniger die schwüle Hitze und der steile Anstieg, als der rege Gegenverkehr aus dem Rhythmus bringen. Nächstes Mal muss ich viel früher dran sein. Potenzial war da, und auch heute läuft es gar nicht so schlecht.
Am Sattel schenken ein paar junge Leute fröhlich Getränke aus. Die haben kanisterweise Wasser einen der steilen Anstiege hochgeschleppt!
Den schönen schattigen aber sehr steilen, stufigen und hindernisreichen Abstieg gehe ich heuer sehr bedächtig an. Dabei ist er heuer wieder praktisch trocken. Was ist wieder los? Mein Kopf kann meinen Schutzmechanismus nicht überwinden. Das werden 141 km im Vernunftmodus.
Das Menü an der Röthelmoosalm ist wieder äußerst verlockend, aber ich halte mich nur kurz auf. Heuer will ich ohne Mittagsschlaf zur Jochbergalm hochstürmen. Als ich das erste mal aufwache, weil ich bemerke, dass meine Beine zucken, bin ich erst wenige der unzähligen Kehren hochgelaufen. Und das passiert mir nun etliche Male. Wie bekomme ich die Prägung von diesem einfachen Anstieg auf Schlaf weg?
Nach und nach nähere ich mich wieder der letzten Position im Feld, inklusive der Sprinter, die achtzig Kilometer laufen werden, und das in gefühlt ganz guter Form. An dem schönen Anstieg zum Hochsattel, und dem Abstieg, einem leicht fallenden Steig in einem halb offenen Kessel mit märchenhaft schöner Aussicht, habe ich mich damit abgefunden. Mit dem tief zerwühlten, halb festgetrockneten Boden vor der seit dem Sattel aus sichtbaren Alm komme ich heute gar nicht zurecht. Den 80-Kilometer-Kandidaten, die mich jetzt erst einholen, erkläre ich, dass wir jetzt nicht zu sehr trödeln sollten, um den Cut in Eschelmoos zu erreichen. Die nette Bischofsfelln-Alm lassen wir mal wieder rechts liegen, der Abstieg zu Forststraße nach Eschelmoos ist sehr steil und tief ausgewaschen, aber für uns problemlos, so dass das Zeitlimit kein Thema ist.
Den Verpflegungsstand ignorierend, laufen wir gleich der unübersehbaren Pfeilmarkierung auf der Straße folgend nach Kohlstatt hinunter. Ich erkläre meinen Laufkollegen, dass wir den Cut geschafft haben, und dass ich jetzt ein Bad zu nehmen gedenke – wie die Fußballer, die sich in der Halbzeitpause in Eis packen (war ein nützlicher Tipp im Chiemgauer 100 Forum; Danke ). Eiskälte sollte die Gefäße verengen und so die Wirkung der Kleinstverletzungen in den Muskeln mildern. Zumindest habe ich das bei etlichen Bergwanderungen erprobt und das Gefühl danach als sehr angenehm empfunden. Das unfreiwillige Bad in diesem Winter habe ich zumindest ohne merkbare Schäden überstanden. Und vollständig wach machen müsste das kalte Wasser mich auch.
Ein wenig geniere ich mich schon, so direkt neben der Forststraße zu baden, aber das wird schon keiner gesehen haben, außer vielleicht der schönen dunkelbrünetten Frau, die gemeint hat, das mit dem Baden solle ich auch machen. Gut, die habe ich vielleicht phantasiert. Manchmal werde ich zum Tagträumer. Aber das Bad ist echt, und wirklich erfrischend. Wie neu geboren jogge ich zur Verpflegungsstation.
Dort ist wieder beste Verpflegung, und ich komme aus dem Essen und Ratschen nicht raus. Wieso macht man das Ziel nicht hier? Als ich doch ans Aufbrechen denke, spricht mich noch jemand an, eine der beiden jungen Frauen, die ich vor drei Jahren am Streckenposten Kaitlalm unterstützen durfte. Die andere mit dem Baby in der Kraxe, die ich fast nicht wiedererkannt hätte, ist Iris, die Streckenrekordhalterin auf hundert Meilen, und jetzt stolze Mama und hübscher denn je.
Beim Verlassen der Station wird jeder einzelne Läufer mit vollem Einsatz angefeuert. Inzwischen dürfte ich tatsächlich der letzte im Feld sein, aber dank dieser Unterstützung fliege ich förmlich über den Steg, bis zu der Blumenwiese, der Mauer, die es jetzt zu überwinden gilt. Einfach hoch, Schritt für Schritt, und auf die zweite Forststraße links abbiegen, da sanft bergauf zur Gleichenbergalm joggen, wo laut Streckenbeschreibung der nächste Cut ist.
Inzwischen bilden sich immer dunklere Wolken.
An der Hütte sehe ich keine Streckenposten. Da es gerade zu regnen anfängt, und ich sowieso einen größeren Stein im Schuh habe, setze ich mich kurz unter das Vordach und bestelle ein Bier. Schließlich liegen noch dreißig Kilometer vor mir. Der Stein ist richtig groß. Der Regen hört gleich auf, aber das Bier steht schon vor mir. Den Mineralschub lasse ich nicht stehen.
Gestärkt geht es weiter über einen hübschen Waldweg zur Seilbahn-Mittelstation, und ab da zum Glück gut markiert mal über Wanderwege und mal über Forststraße unspektakulär wellig weiter. An irgendeiner Kreuzung steht unvermutet noch ein Streckenposten. Deren Getränkeangebot nehme ich gerne an – auch wenn bald mehr als genug Wasser von oben kommen wird. Donner, eine schnell fallende Lufttemperatur und erste Tropfen kündigen an, dass eines der umherziehenden Gewitter bald hier sein müsste. Sch…, gerade jetzt dürften fast alle Kollegen, die noch im Rennen sind, am Hochfelln unterwegs sein, und mit denen möchte ich jetzt nicht tauschen. Spätestens jetzt bin ich froh, dass ich diesen letzten Berg wieder auslassen muss.
Potzblitz, Donnerwetter und viel Wasser
Als der Regen richtig anfängt, bin ich in Maria Eck. Während ich die Regenjacke anziehe, verwandelt sich die Teerstraße in einen Bach, und ein gestufter Gehweg in eine Stromschnellenlandschaft. Ich folge leicht bergab den Markierungen durch die Ortschaft hindurch, bis zu einem Radweg, der aus der Siedlung heraus parallel zur Straße verläuft. Müsste ich zum Versorgungsposten nicht irgendwann rechts über die Straße? War das vorher doch eine Pfeilmarkierung? Ich laufe ein wenig zurück. Das kann ein Pfeil gewesen sein. Der Platzregen hat die Hälfte der rosa besprühten Kiesel umgedreht. Gut, dass ich schon mal hier war. Hoffentlich bin ich auch wirklich Letzter.
An der Station sind noch jede Menge feine Sachen zum Essen übrig. Da mir langsam kalt wird, laufe ich aber recht bald weiter. Was jetzt kommt, ist eigentlich schön harmlos: Fahrweg und Wanderwege ohne lange Steigungen. Der Regen lässt bald nach, aber das nasse Grünzeug hängt streckenweise bauchhoch und manchmal stachelig über den Weg. Trocken werde ich also nicht, aber man kann durchtraben.
Die Natur hat allerdings noch ein Hindernis vorgesehen.
Doch Wassergräben und Elektroschocks
Der Regenguss hat den Pfad stellenweise in einen See verwandelt. So etwas kommt vor, aber eine Stelle hält mich ernsthaft auf: Der Weg führt in einen kleinen Wildbach. Vor einer Stunde war das vermutlich ein praktisch trockenes Bachbett. Auf der anderen Seite versucht ein Stück Trassierband, mich zu locken. Was mich beunruhigt, ist die Stufe, über die das Wasser direkt unter der Furt in die Tiefe schießt.
Ich denke an eine Situation vor 24 Jahren, als ich an einer ähnlichen Stelle auf glitschigem Grünzeug ausgerutscht und in Folge abgestürzt bin, und mir dabei drei Rückenwirbel gebrochen habe. Eigentlich dürfte ich demnach gar nicht hier sein.
Damals konnte ich sehen, wo ich hintrete, und hatte kein reißendes Wasser unter mir. Hochwahrscheinlich wären die zwei Schritte durch die Brühe völlig harmlos, aber ich weiß ja nicht, wie tief das Wasser und wie glatt der Untergrund ist. Ich schleudere große Steine in die Mitte des Wasserlaufs, nicht zu viele, um möglichst wenig aufzustauen. Ob die halten, wenn ich drauftrete? Zur Sicherheit werfe ich noch einen kleinen Baumstamm über die Furt. Der zerbricht in vier gleich lange Stücke, war wohl schon schön mürbe. Jetzt habe ich aber einen Bogen mit fast zwei Metern Abstand zu der Stufe. Auch wenn ein Stein wegrutscht, kann da nichts passieren, wenn ich ruhig bleibe. Eins, zwei, drei, und noch einen Schritt auf den Weg.
Nach gefühlt über einer halben Stunde Tüftelei bin ich wieder auf der Laufstrecke zwei Meter weiter, und habe nur einmal eine Schuhsohle kurz im Wasser gehabt. Mein Stein war etwas klein, aber gehalten hat er. Wieder bin ich froh, dass ich Letzter bin.
Jetzt wird es wieder eng mit dem Zeitlimit in Egg. Gas geben geht von der Energie her noch, aber ich finde den zweiten Gang nicht. Rhythmus halten und weiter. Teerstraße, der Anstieg rechts über die Wiese, mitten durch eine Garten, rechts links auf die Straße. Ohne die Pfeile hätte ich keine Chance. Immer noch applaudiert jemand. Die netten Leute in der Garage sind schon am Aufräumen, aber ich könnte mich noch gut satt essen.
Auch wenn ich den Abkürzer durch Nachbars Garten und Wiese vom letzten Jahr her schon kenne, schickt man mir für die ersten Meter ein kleines Mädchen mit. Die erzählt mir, dass heute sogar Leute am Berg umgedreht wären und aufgegeben hätten.
Heute spüre ich, dass der Elektrozaun geladen ist. Dabei bin ich sogar am richtigen Durchgang. Aber Metallstöcke leiten nun mal. Ich muss doch schon reichlich müde sein.
An der Steilstufe durch den Wald bewege ich mich in Zeitlupe, obwohl meine Schuhe auf der schwarzen Erde kein bisschen rutschen. Bald bin ich wieder auf einer Teerstraße. Leute applaudieren, erklären mir den Weg, irgendwann werde ich wieder ständig überholt. Habe ich das gleiche Schlussstück wie die Finisher der kompletten Runde? Das hatte ich anders in Erinnerung. Egal.
Diesmal kommt mir meine Leistung fast vor wie durchgemogelt: Nach einem für mich leichten schnellen Anfang habe ich über hundert Kilometer lang von einer Zeitreserve gezehrt. Und die habe ich – mit einer Nerven schonenden Reserve – praktisch aufgebraucht. Und ich war nie in Versuchung, mich den Gefahren des Gewitters auszusetzen, bin um die grauslige Situation selber herumgekommen, musste auch nicht entscheiden, ob ich den aussichtslosen Versuch starten sollte, die letzten 25 Kilometer über den Hochfelln in fünf Stunden zu schaffen.
Dann freue ich mich auf das blaue Hemdchen mit dem kompletten Höhenprofil auf dem Rücken, darauf, dass ich ohne Blessuren und Wehwehchen durchgekommen bin. Schließlich erinnere ich mich daran, dass es ungewöhnlich ist, mit einem kaputten Sprunggelenk derart gut zu Fuß zu sein, und dass ich nichts als dankbar sein muss, 24 Jahre nach meinen Wirbelbrüchen diese Leistung abrufen zu können, ohne mir Gedanken über meine Belastbarkeit machen zu müssen – und das zu Fuß!
Das Stadion kommt. Unermüdliche Zuschauer applaudieren unter vollem Einsatz jeden Läufer einzeln ins Ziel, und das noch um elf Uhr abends. Jeder Finisher bekommt von Gi persönlich sein Trikot, und die unermüdlichen Helfer geben bis zum Abwinken Bier aus, und was man sonst noch an Lebensmitteln gut brauchen kann.
Ein Lob gilt auch dem Wirt im Stadionstüberl, der auf Wunsch auch noch den letzten Läufern ein warmes Essen serviert hat, und kein schlechtes. Abgenommen habe ich an diesem Wochenende vermutlich nicht. In Verbindung mit dem Hopfen im Bier gibt das Essen dem vorher (endlich) aufgekratzten Körper eine Schwere und Müdigkeit, die schön tiefen Schlaf ermöglicht – und damit eine gute Regeneration. Nach dem Lauf ist vor dem Lauf.
Ich habe schon beschlossen, dass das nicht mein letzter Anlauf hier gewesen sein wird.
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