Donnerstag, 18.08.2011
Bei strahlend blauem Himmel breche ich nach einem kleinen Frühstück mit Kaffee und Marmeladenbrot auf. Ich fühle mich trotz der langen Etappe von gestern erstaunlich ausgeruht. Erst geht es 2 Kurven weit fast eben auf der Landstraße dahin, wie vor 20 Jahren einmal mit dem Rad, dann, am Sella di Razzo die erste Forststraße rechts. Ab jetzt gilt es, aufzupassen und die richtigen Abzweigungen zu nehmen. Trotz der Alternativen, einer knackigen Bergtour oder einem bestimmt reizvollen Ausflug nach Sauris, will ich möglichst ohne Umwege nach Andrazza.
Ich bin nicht ganz der erste heute, ein Pärchen rüstet sich ebenfalls zu einer Wanderung. Ich bereite mich mit Sonnencreme auf den strahlend schönen Tag vor, nehme ein paar tiefe Schlucke von der noch angenehm lauen Morgenluft, und beeile mich dann, voranzukommen, bevor es wieder richtig heiß wird.
Der Weg geht erst ein gutes Stück fast eben durch herrlich sattes Grün, vorwiegend Wiesen, vorbei an Abzweigungen nach Sauris, bevor es ordentlich bergauf geht, auf einer sehr steilen, bis zur Passhöhe üppig bewachsenen knallbunten Blumenwiese. Zum Glück bin ich auf 1700 m gestartet, so dass ich nur wenige hundert Höhenmeter steigen muss, was auch bei der Hitze kein Problem ist. Rückwärts blicke ich auf einen verschlungenen Weg im endlosen Grün, vorwärts sehe ich vom Pass aus Berge und einen steilen blumig grünen Abhang, und – Berge, nichts als Berge.
Der Abstieg eilt mir gar nicht. Erstens ahne ich die flimmernde Hitze, die mich unten erwartet, und zweitens ist der Pfad tückisch. Nein, das ist untertrieben. Dadurch, dass die schmale, tief ausgewaschene Weg-Rinne von umgebogenem hohen Gras völlig bedeckt ist, samt Wurzeln und Steinen jeder Größe, ist er ein echter Knochenbrecher. Denn Steine gibt es unzählige, da links und rechts vom Pass jeweils eine hohe Wand für Nachschub sorgt, und viele bemerkt man wegen des Grasbewuchses erst, wenn man drauftritt. Umknicken tut höllisch weh, und bei jedem Mal bin ich nicht ganz sicher, ob noch alle Bänder, Sehnen und Muskeln heil sind. Vermutlich ist es hier wirklich von Vorteil, sehr niedrige Absätze zu haben, so dass es beim Umknicken nicht auch noch eine Hebelwirkung gibt. Und ohne mein regelmäßiges Training im rauen Gelände wäre die Wanderung möglicherweise spätestens hier beendet.
Heil erreiche ich eine Almhütte, die für Biwakzwecke offen, aber unbewohnt ist, und wo ich Wasser nachfüllen kann. Ab hier geht es mal flach und nicht so schnell, mal durch Wald und nicht so zugewachsen weiter hinab, bis zu den ersten Straßen. Irgendwann sehe ich die ersten Häuser, und erreiche bald darauf eine kleine Ortschaft mit einem Gasthaus an der Durchfahrtstraße. Hier gibt es Mittagessen.
Danach ist mir noch zu heiß zum Laufen. Vor allem habe ich keine realistische Aussicht, heute weiter als bis zur nächsten Hütte zu kommen, die höchstens zwei Stunden weiter oben liegt. Der nächste Halt wäre ein Bivacco, und Vorräte könnte ich erst am späten Nachmittag wieder kaufen – wenn ich einen Laden fände – und dann wäre es eine Hetze in einer gnadenlos aufgeheizten Steinrinne.
Unten am Fluss lese ich noch, dass der kürzere Weg zum Kamm zurzeit kaputt ist, und entschließe mich zu einer ausgedehnten Siesta in einem neuen Park am Fluss.
Stundenlang döse ich nach einem Fußbad auf einem Rasen vor mich hin, bevor ich mich am späten Nachmittag zum Rifugio aufmache. Nach einem kurzen fast flachen asphaltierten Stück durch ein angenehm kühlendes Wäldchen, bin ich bald auf einem Schotterweg durch ein Kar, das ich nicht gerne bei voller Italiensonne betreten möchte.
So jogge ich in der lauen Abenddämmerung gemütlich hoch. Ein paar Läufer kommen mir entgegen. Ich denke an die Plakate von einem Sky Run. Ein kräftiger Mann mit Rucksack ist besonders konzentriert bergab unterwegs, bestimmt ein Berglaufkollege.
Auf einmal stehe ich im Stau. Ich sehe einen Steinbock auf einem Felsklotz und ein paar Leute mit Fotoapparaten und Kamerahandys. Vorsichtshalber krame ich auch meinen Fotoapparat hervor. Der Steinbock rührt sich derweil kaum von der Stelle. Im Gegenteil sieht es so aus, als würde er posieren – frontal, im Profil, mit gesenkten Hörnern.
Nachdem die meisten Wanderer weitergezogen sind, steigt er auf den Wanderweg ab bleibt direkt unter seinem Stein stehen, etwa drei Meter von mir. Ich will ihn weiterziehen lassen, aber er denkt nicht daran, sondern bleibt bei seinem Felsen und wühlt in den Pflanzen darunter herum, und macht sich gierig daran, zu fressen. Er hat darauf gewartet, bis wir endlich seinen Fressplatz frei geben!
Jetzt bin ich in einer taktisch ungünstigen Lage, weil der Steinbock quer über dem Weg steht, und ich erst mal nicht stören möchte. Anfangs gehe ich davon aus, dass er nach ein paar Bissen weiterzieht. Schließlich gibt es hier alle paar Meter Grünzeug. Als er aber immer wieder an dem Felsen leckt, und dann genüsslich mit konstanter Intensität weiterfrisst, habe ich den Eindruck, dass er sich schon lange auf genau dieses Mahl gefreut hat, und es ausgiebig genießen will. Da ich die Situation aus eigener Sicht sehr gut kenne, möchte ich ihn nur äußerst ungern stören. Bald kommt noch ein junger Steinbock hinzu, der erst zuschaut, dann den Großen mit Hörnerschlag begrüßt, und sich dann dazugesellt. Vermutlich ist es ein Sohn. Als der Kleine weiterzieht, der Große aber nicht daran zu denken scheint, gehe ich doch vorsichtig weiter, bis der betont langsam den Weg freigibt und talwärts weiterzieht.
Eine halbe Stunde später bin ich auf der Hütte, einem schönen, modern anmutenden Gebäude, das aber gut in die Landschaft passt. Meine Zimmergenossen sind drei Italiener: Einer ist ein älterer, unglaublich schlanker Mann, der gerade dabei ist, den gelben Weg der Via Alpina abzuschließen. Er sieht so aus, als hätte er in den Wochen, die er von Genua aus unterwegs war, ständig zu wenig zu essen bekommen. Die anderen beiden dürften knapp mein Alter haben, und machen, praktisch wie ich, gerade eine mehrtägige Bergwanderung.
Zum Abendessen sitzen wir gemeinsam am Tisch, und ich bemühe mich nach Kräften, dem Gespräch zu folgen.
Ich glaube, dass ich in groben Zügen einiges verstehe. Der Weitwanderer erzählt ein paar Geschichten von seiner Wanderung, und von Ereignissen aus seiner Verwandtschaft. Wenn ich richtig verstanden habe, ist zum Beispiel ein Verwandter von ihm vor kurzer Zeit tödlich abgestürzt, obwohl er sogar Bergführer war. Er selber scheint alpinistisch auch recht gewandt zu sein. Die Forcella Segnata, die er heute überquert hat, war bei meiner vorletzten Alpenquerung eine Grenzerfahrung für mich. Hier weicht er auch vom gelben Weg ab, weil die Route, auf der wir jetzt sind, anspruchsvoller ist. Und er genießt es, endlich wieder in seiner Heimat zu sein, dem Friaul.
Da die anderen beiden auch aus dieser Region sind, unterhalten sie sich in ihrem Dialekt.
Sie entschuldigen sich zwischendurch dafür, dass sie friaulisch sprechen.
Ich gebe zu, dass mir das nicht aufgefallen ist. Ich kann eigentlich sowieso kein italienisch, was ich halt manchmal vergesse, wenn ich in dem Land bin – und was mich nicht davon abhält, mich zwischendurch einzumischen, mit einem Kauderwelsch, das die drei zu verstehen scheinen, und aus dem sie einiges an Spanisch heraushören.
Nach einigen Gläsern Wein geht es vernünftig früh in die Stockbetten. Wir alle haben jeweils eine lange anspruchsvolle Etappe vor uns, und wir wollen im Morgengrauen aufbrechen, weil der Tag heiß werden könnte.
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- Die Idee
- Die Vorbereitung
- Warten
- Anlauf
- Aus der Karte gelaufen und kein Schulbus
- Rush Hour im Märchenland
- Tauernpass, Nasenbluten, Vorfreude mit Gletscherblick
- Gletscher, Sturzbäche, Edelweiß
- Ruhetag mit Knalleffekt und Schwefel
- Mit allen Mitteln nach Italien, auch zu Fuß
- Verlaufen, versumpft, traumhafte Szenerien
- Sonne, Siesta und ein geduldiger Steinbock
- Heiße Traumetappe auf bekannten Wegen
- Auf Rommels Spuren durch Dinoland und durch Tunnels auf die Zielgerade
- Zugabe: Durch das Land von Franz dem Bären
- Ein Zuckerl zum Abschluss