Obstanser See Hütte – Rifugio Ten. Fabbro
Mittwoch, 17.08.2011
Der Tag beginnt mit einem ausgiebigen Frühstück. Meine Tischgenossen von gestern versorgen mich zusätzlich zu meinem gekauften Frühstück mit ihren mitgebrachten Sachen mit. Das nehme ich gerne an. Heute werde ich jede Kalorie gut brauchen können, und die drei haben offensichtlich Proviant für eine Woche dabei.
Das enge Durcheinander, wenn alle gleichzeitig zum Aufbruch drängen und sorgfältig zusammenpacken und sich für den Wandertag rüsten, ist immer wieder unterhaltsam. Mit meinen Tischnachbarn gibt es noch ein paar Erinnerungsfotos. Der Großglockner muss schon mit drauf sein – wenn er schon mal über die Wolkendecke hinausragt. Wir sind hier, auf 2400 Metern Meereshöhe, tatsächlich über den Wolken! Dabei stehen wir auf der Terrasse einer bequemen Hütte, sind von noch weit höheren imposanten Bergen umgeben, und die Hütte liegt an einem See, auf dem es sogar Tretboote gibt!
Der Trail zum Pass, dem Sella dei Frugnoni, ist nicht allzu weit und schön zu laufen. Aufhalten tut vor allem die grandiose Sicht, die spätestens nach jeder Wegkrümmung neue wunderschöne Ausblicke hergibt. Am Passo Silvella sehe ich neben ein paar gemauerten Befestigungen oder Unterständen die weitere Wegstrecke, einen langen, aber überschaubaren grünen Bergrücken. Der wird leicht zu laufen sein. Aber erst muss ich dort hinkommen. Ab dem Pass geht es aber vorerst zügig auf einer Fahrstraße hinunter.
Was ich vom Pass aus nicht bemerkt habe, ist die alpine Nachbarschaft: ich laufe in Augenhöhe an den Dolomiten vorbei! !
Nur ein tief eingeschnittenes Tal trennt mich von meinem Lieblingswandergebiet, das sich erst einmal in Wolken verhüllt, nur mal den einen, mal den anderen oder eine Gruppe seiner einzigartigen Charakterköpfe zeigt. Wie soll ich mich da auf meinen Singletrail konzentrieren? Die Dolos sind einfach schöne Berge, lauter wilde Charakterköpfe und Spitzen. Ich habe das Gefühl, alte Bekannte zu treffen, obwohl ich noch die wenigsten der kantigen Nachbarn jenseits des von mir aus nicht sichtbaren Bachs persönlich kenne.
Gerade einmal 3 Mountainbiker treffe ich. Der Weg ist mit seinen vielen ausgewaschenen Löchern auch sehr schlecht fahrbar, aber gut zu laufen. Die anderen Radler dürften auf einem einen halben Berg tiefer gelegenen Weg unterwegs sein.
Da von dort ein Weg in das Flusstal abzweigt, in das ich sowieso hinunter will, versuche ich den auf meiner Karte eingezeichneten Abkürzer auf diesen Weg zu nehmen. ich glaube, diesen gefunden zu haben, bin mir aber nicht so recht sicher, da die wegartige Strecke immer wieder in einer Wiese oder einem Latschenfeld verschwindet. Mit Stöcken ist das steile Gelände kein Problem, aber die Straße finde ich trotzdem nicht. Stattdessen laufe ich unzählige Male kreuz und quer und hin und her am Hang herum, verschiedensten vermeintlichen Wegen oder Pfaden folgend.
Nach gefühlten ein oder zwei Stunden gebe ich das auf und steige wieder zu meinem Kammtrail auf. Wenn ich dem folge, werde ich zwar früher oder später auf eine steile Teerstraße kommen, aber über diese auch nach St. Stefan, wo meine Karte aufhört, und ich hoffentlich eine für das fehlende Wegstück bekomme. Der Höhentrail ist wunderschön, führt sogar an ein paar winzigen Seen vorbei, und ist überraschend kurz. Schade, dass ich keinen Proviant für eine ausgiebige Brotzeitpause dabeihabe.
Ich habe in Rekordzeit geschätzt die halben Dolomiten passiert, als ich auf eine Forststraße und in einen Wald komme. Über einen zügig zu rennenden breiten Abstieg komme ich auf eine Teerstraße und sehe unter mir ein Dorf, Comelico Superiore. Ich mache mich auf die breite steile Asphaltstraße, die auch in den sonnigen italienischen Spätsommer führt. Das Laufen strengt nicht an, aber ich werde trotz Gefälle nicht schnell genug für eine ausreichende Fahrtwindkühlung. Martin a la griglia.
Ein Auto hält an. Ich darf bis zum Dorf mitfahren. Hier gibt es immer noch eine wunderschöne Aussicht, es ist aber reichlich heiß, und ich bekomme immer mehr Hunger. Da gerade Mittagszeit ist, hat im Dorf nichts geöffnet, außer vielleicht einer Bar, die aber vermutlich nur Rauchwaren, Espresso und Wein führen wird.
Ich beschließe, mich – mit frisch gefülltem Wassertank – schleunigst auf den Weg nach St. Stefan zu machen. Dabei habe ich das Glück, dass ich an genau der richtigen Stelle einen Einheimischen nach einem Abkürzer frage, so dass ich statt über eine weitere Serpentinenstraße über einen anfangs sehr steilen und eingewachsenen, aber ausgeschilderten Wiesenweg zum Fluss nach St. Stefan komme.
Unten wartet ein gepflegter Radweg auf mich. Der Hunger nervt langsam, eine Pause würde die Zeit zur nächsten Mahlzeit nur verlängern. Also jogge ich unaufhaltsam weiter, bis ich – noch zur Mittagspausenzeit – das Dorf am Ende der Karte erreiche.
Mein erster Blick gilt einem Restaurant, nebenbei denke ich aber auch an die fehlende Landkarte. Am Dorfplatz mit der großen Kirche finde ich schnell einen Laden, der Wanderkarten führt, auch die detaillierte Tabacco-Karte für mein nächstes Wegstück. Nach dem Essen studiere ich gierig die neue Karte. Vor mir liegt eine Strecke mit erschreckend wenigen Unterkunftsmöglichkeiten. Entweder suche ich innerhalb einer Laufstunde eine Unterkunft, oder ich dehne den Tag zu einer Gewaltetappe aus, und muss unbedingt die Hütte Rif. Ten. Fabbro erreichen. Dazwischen gibt es nichts zum Übernachten. Die Hütte ist zwar weit weg, aber der Weg ist laut Kartenbild komplett fahrbar, also durchwegs leicht und zügig zu laufen.
Die gröbste Mittagshitze ist um, ich fülle meine Wasserflasche und renne los. Erst streife ich lange den breiten Dorfrand. An einem alten Hotel überdenke ich noch einmal kurz, ob es nicht doch klüger wäre, hier die Etappe zu beenden. Dann bin ich unterwegs in ein Tal, in das eine noch nicht komplett asphaltierte Straße führt. Offensichtlich wird diese zurzeit ausgebaut. Ein langes Stück scheint erstens nagelneu und zweitens breiter als das Stück zuvor zu sein. Außerdem wirken auch die Brücken über das ausgetrocknete Bachbett neu. Obwohl der Anstieg flach ist, schiebe ich kräftig mit den Stöcken an. Irgendwann ist für mich die Ausbaustrecke zu Ende, und ich renne auf einer Forststraße weiter.
Ab jetzt muss ich aufpassen, dass ich die Abzweigung zu einer Furt über einen Fluss nicht verpasse.
Wie so oft interpretiere ich die fließenden Grenzen zwischen Weg und Pfad und zwischen Weg und Fahrweg, und zwischen Fahrweg und Straße anders als die Kartenzeichner, und biege eine Abzweigung zu früh nach rechts ab. Zwar erreiche ich den Bach, an den ich wollte, sehe aber keine Furt und vor allem keinen Weg auf der gegenüber liegenden Seite. Ich beschließe, im Bachbett weiterzulaufen, bis ich an die vorgesehene Stelle komme.
Das Laufen in dem kühlen Flussbett gefällt mir. Ich mache mir viel zu viele Gedanken um die richtige Abzweigung, die ich nicht verpassen will. So eine Furt, die als Teil eines Fahrwegs eingezeichnet ist, kann man nicht übersehen, trotzdem laufe ich reichlich gebremst, obwohl ich weiß, dass ich spät dran bin. Genießen ist auch wichtig, außerdem könnte man bachaufwärts doch einen falschen Abzweig erwischen.
Ich spüre förmlich, wie meine Akkus sich in der Ruhe und Kühle und der heimeligen Welt zwischen Wasser, Kies und Zweigen wieder aufladen. Und weit kann es bis zur Furt nicht sein. Da ist sie ja. Die Kiesstraße links und rechts ist wirklich unübersehbar. Ein paar Meter weiter im Wald gibt es an einer großen Kreuzung sogar Wegweiser, einer weist in Richtung Rifugio Ten. Fabbro.
Hier müssen schwere Fahrzeuge den Weg metertief zerwühlt haben. Der Weg wird lange nicht besser. Jede Gelegenheit nutze ich für einen Abschneider. Jeder hüfthoch bewachsene Grashang ist angenehmer, als im nassen Lehm zu versinken. Einen verlorenen Schuh würde ich da niemals wiederfinden. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich mich befreien könnte, wenn ich bis zum Schritt in der zähen Masse steckte. Streckenweise ist die Spur angetrocknet und gibt meinen Füßen Halt, stellenweise muss ich irgendwie ausweichen, oder mit gezielten Sprüngen die Seite wechseln. Ich bin froh um meine in Jahrzehnten antrainierte Kondition. Aber irgendwann muss diese fürchterliche Strecke doch aufhören!
Mit mehr Glück als Verstand erreiche ich in der letzten Abenddämmerung eine Kuppe, an der ein Trail im Gras in Richtung Hütte abzweigt. Endlich habe ich wieder festen Boden unter den Füßen. Das ist ein Gefühl wie nach einer Seefahrt. Ich glaube, ich sehe die Hütte – die hoffentlich auf hat – könnte es also noch ohne Stirnlampe schaffen.
Sternvolldreck und leicht derangiert komme ich an, kann aber die beiden entscheidenden Fragen stellen: Kann ich hier übernachten? Gibt es noch was zu essen?
Ich darf meinen Rucksack in mein Zimmer stellen und muss gleich wieder zum Essen runter in die Gaststube. Ich versuche, mich für die Uhrzeit zu entschuldigen und von dem Zustand des Wegs zu erzählen. Der Wirt scheint die Geschichte schon zu kennen.
Wieder ein wenig verlaufen, was aber richtig gut getan hat – und dann diese unglaubliche Lehmstrecke – und dann doch die Punktlandung an der Hütte. Nach so einem Tag schmecken Rotwein und Abendessen besonders gut.
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- Die Idee
- Die Vorbereitung
- Warten
- Anlauf
- Aus der Karte gelaufen und kein Schulbus
- Rush Hour im Märchenland
- Tauernpass, Nasenbluten, Vorfreude mit Gletscherblick
- Gletscher, Sturzbäche, Edelweiß
- Ruhetag mit Knalleffekt und Schwefel
- Mit allen Mitteln nach Italien, auch zu Fuß
- Verlaufen, versumpft, traumhafte Szenerien
- Sonne, Siesta und ein geduldiger Steinbock
- Heiße Traumetappe auf bekannten Wegen
- Auf Rommels Spuren durch Dinoland und durch Tunnels auf die Zielgerade
- Zugabe: Durch das Land von Franz dem Bären
- Ein Zuckerl zum Abschluss