Der um zwei Drittel angewachsene Haufen kommt mit einem freundlichen Gruß an den einerseits skeptischen und andererseits neugierigen Blicken der beiden Leute an der Hotelrezeption vorbei. Der Skeptische ist vermutlich der Pförtner und der Neugierige der Junge vom Bahnhof, der wohl eine Art Hotelboy ist. Die beiden Gäste finden ihr Hotel feiner. Dafür kostet es auch tausend Lira mehr. Der Komfort reicht aber allemal für eine gemütlich schwatzende und gelegentlich lachende Runde, die fleißig eine Tasse mit Himbeergeist kreisen läßt. Ob die wohltuend desinfizierende Flüssigkeit nebenbei die Stimmbänder kräftigt oder das Gehör schädigt, sei dahingestellt. Jedenfalls klopft es nicht allzu lange Zeit, nachdem eine Flasche mit einem halben Liter geleert ist. Der Pförtner, oder welche Stellung er auch immer inne hat, bittet darum, ruhig zu sein und ihm damit Schwierigkeiten zu ersparen. Don’t make noise, please. Be quiet … Macht keinen Lärm, bitte. Seid leise … also Pschschsch. Nachdem er das letzte Wort (Pschschsch) wiederholt hat, macht er die Tür wieder hinter sich zu. Hans regt sich auf. Was will denn der? Wir sind doch leise. Der soll sich nicht so aufführen. Wichtigtuer. Oder wollte er nachschauen, was in dem Zimmer los ist? Spanner.
Ein paar Minuten später klopft es wieder. Was will er denn jetzt schon wieder? Wenn er sich wieder aufführt, kann er was erleben. Hans macht die Tür auf. Pschschsch. Be quiet. Don’t make any noise. Pschschsch! Pschschsch! Zwei stärker angetrunkene ziemlich junge Mädchen betreten das Zimmer, nehmen einen beziehungsweise eine der Anwesenden nach dem oder der anderen in den Arm und verteilen Küßchen. Nach dieser Begrüßung fordern die beiden wiederholt mit einer Mischung aus ernster Miene und unvermeidlichem Kichern zur Ruhe auf. Pschschsch! Don’t make any noise. Be quiet.
Die eine, ein zierliches blondes Mädchen, wiederholt die Aufforderung nochmals. Don’t make any noise. Be quiet. Look, I am a serious person. I’m a very serious person. I don’t drink. I don’t speak loudly. And I do not even laugh. Macht keinen Lärm. Seid leise. Ich bin eine sehr ernsthafte Person. Ich trinke nicht. Und ich lache nicht einmal. I’m never smoking because I’m playing floot. Ich rauche nie, weil ich Flöte spiele. Sie steckt sich eine Zigarette an. Mein Vater sagt, wenn man Flöte spielt, darf man nicht rauchen. Und ich will gut Flöte spielen. Darum rauche ich nicht. Wir waren in ganz Europa. Wir haben Budapest gesehen, wir waren in Zellamsee und jetzt sind wir in Istanbul. Sie verteilt wieder Küßchen.
Offensichtlich hat sie, die sich mit Pia vorstellt, mehr Alkohol abbekommen als Marga, eine nicht ganz so zierliche kleine Brünette, die auch deutlich angetrunken ist.
Die Türkei ist ein tolles Land. Und die Türken sind so nett. Die laden einen zum Essen ein, zeigen einem Teppiche und alle Sehenswürdigkeiten, sind ganz freundlich, und man muß nicht einmal etwas kaufen.
Als der Redeschwall etwas nachläßt, stellen sich alle vor. Die Mädchen sind aus Finnland, achtzehn Jahre alt und unterwegs in Europa. In drei Tagen müssen sie wieder nach Hause fliegen. Mein Vater hat gehört, daß es in der Türkei Krieg gibt. Da hat er gleich angerufen und gesagt, daß wir sofort zurückfliegen müssen. Und wenn Vater das sagt, dann tun wir das. Wir sind sehr ernsthafte und folgsame Mädchen.
Offensichtlich wollen die Mädels zum Abschluß der Reise noch Abenteuer erleben. Warum hätten sie sonst unser Zimmer gestürmt? Ihr Pech ist nur, daß sie auf drei brave junge Männer gestoßen sind, die außerdem noch gerade Besuch haben. Vermutlich haben sie tüchtige Schutzengel.
Als die Runde gerade beginnt, sich in Grüppchen aufzuteilen, und die Mädchen im Begriff sind, sich an ihren Favoriten heranzumachen, den geheimnisvollen, gutaussehenden Tunesier Hassan mit dem verschmitzten Grinsen, klopft es wieder. Diesmal ist es vermutlich wirklich zu laut. Die kleinen Mädchen haben einfach zuviel getrunken und können ihre Lautstärke nicht mehr regeln. Irgend jemand macht auf. Ein leicht nervöser, ziemlich junger Mann, der gar nicht wie ein Türke aussieht, will etwas fragen, erspäht die Mädchen und weiß vermutlich nicht, ob er erleichtert sein soll, sie gefunden zu haben, oder entsetzt, daß sie tatsächlich in ein Zimmer mit wildfremden Leuten eingefallen sind, in dem noch dazu die Frauen ganz deutlich in der Unterzahl sind. Puh, da sind sie ja.
Komm ruhig rein und nimm Platz. Das scheint ja inzwischen eine öffentliche Party zu sein. Der Junge ist auch Finne und reist mit den Mädchen. Außerdem hat sich ihnen ein Franzose namens Michel angeschlossen. Er versichert glaubhaft, daß die beiden Mädchen nur Blödsinn im Kopf haben und er inzwischen recht gestreßt und genervt ist. Aber irgendwie will er sie auch nicht alleine lassen.
Es klopft wieder. Wer das jetzt wohl ist? Um diese Zeit höchstens noch der Portier, der die Feier auflösen will. Oder doch ein neuer Gast? Die Tür wird wieder aufgemacht. Sofort wird der Junge als Michel erkannt und hereingebeten. Die Runde kann weitergehen. Pia scheint mehr Chancen bei Hassan zu haben, wogegen sich Marga noch bei den anderen Männern umschaut.
Wieder klopft es. Der Pförtner bittet um Ruhe. Pschschsch. Ihr könnt feiern, aber seid um Himmels Willen ruhiger. Er verschwindet wieder. Hans regt sich wieder auf. So ein unsympathischer Wichtigtuer. Wen sollen wir denn stören? Irgendwie hat er recht. Schließlich dürfte ein ansehnlicher Teil der Hotelgäste in diesem Zimmer versammelt sein. Und die finden sich nicht zu laut. Der Geräuschpegel wird durch die Unterbrechung nicht wesentlich beeinflußt.
Hassan scheint ein Geräusch an der Tür gehört zu haben und macht auf. Pschschsch. Der Hotelboy steht draußen mit einem Lächeln zwischen Unbedarftheit und Schlitzohrigkeit. Wahrscheinlich ist er neugierig und will wissen, was in dem Zimmer los ist. Er wird freundlich hereingewunken und von den Finninnen mit Küßchen empfangen. Das scheint ihm zu gefallen, vor allem, da Marga sich jetzt besonders um ihn kümmert, soweit dies bei einem wildfremden, etwas schüchternen Jungen möglich ist, der praktisch keinen gemeinsamen Wortschatz mit jemandem im Zimmer hat.
Er erspäht ein deutsch-türkisch / türkisch-deutsches Wörterbuch, nimmt es in die Hand und blättert darin herum. Verheiratet – evli? Ja. Evlimisin? Sind Sie verheiratet? Danke. Offensichtlich hat er soeben einen wichtigen Satz für einen Beschäftigten im Hotelgewerbe gelernt. Es stellt sich heraus, daß er Haschim heißt und aus der Gegend von Trabzon kommt, an der Schwarzmeerküste nahe der damaligen sowjetischen Grenze, fast am nordöstlichen Ende der Türkei. Und von dort fährt er zum Arbeiten nach Istanbul, wegen eines lausigen Hoteljobs. Aber der scheint ihm Spaß zu machen. Er scheint immer gut gelaunt und zu Blödsinn aufgelegt zu sein. Vermutlich war er nur zu dem Zimmer geschickt worden, um für Ruhe zu sorgen. Aber wie sollte er der Einladung von so netten Leuten widerstehen, vor allem, wenn er gleich von zwei hübschen Mädchen mit Küßchen empfangen wird? Die Stimmung im Zimmer hat sich inzwischen noch gehoben, obwohl der letzte Tropfen Himbeergeist schon mindestens eine Stunde, bevor die Mädchen gekommen sind, seiner Aufgabe zugeführt worden war. Und das Zwetschgenwasser, das noch vorrätig wäre, könnte verheerende Folgen haben. Die Finninnen sind ja schon ausgeflippt genug und darüber hinaus so blau, wie man nur sein kann. Das muß man nicht ausufern lassen. Es ist ja auch ohne weiteren Alkohol lustig genug. Einmal im Laufe der Nacht öffnet sich die Tür wieder einmal, und man sieht draußen Hassan, der jemanden hereinzuwinken scheint. Fast kriechend und sich vor Lachen den Bauch haltend kehrt er in das Zimmer zurück. Manche lachen mit, andere schauen verwundert. Ist er jetzt abgedreht? Hat er etwas Verrücktes angestellt? Hassan winkt noch einmal jemanden aus dem Gang heran. In der Verwunderung, wer denn jetzt noch zu Besuch kommen soll, taucht mit langsamen Bewegungen ein in eine weiße, großzügig geschnittene Feinripp-Unterhose und ein Trägerunterhemd aus dem gleichen Stoff gekleideter, von den Jahren bereits gezeichneter, leicht untersetzter grauhaariger Mann in der Tür auf. Ob das ein Hotelnachbar ist, der sich beschweren will? Hassan winkt ihn herein. Der neue Gast setzt sich in der Nähe der Tür mit verschränkten Beinen auf den Boden an die Wand und schaut zu, wie sich die ganzen jungen Ausländer unterhalten. Seinem zufriedenen Gesichtsausdruck nach scheint ihm das zu gefallen. Dabei gibt es nichts Spektakuläres zu sehen. Ein paar junge Leute sitzen auf drei Betten und zwei Stühlen rum und unterhalten sich über irgend etwas, von dem er höchstwahrscheinlich nichts versteht. Wer ist das denn? Vermutlich ein Türke aus einem Nachbarzimmer, dem Hassan erzählt hat, hier wäre die volle Party am Dampfen. Nach einer Weile, in der er mehr oder weniger unbeachtet in seiner Ecke gesessen hat, versucht er, das Wort zu ergreifen. Dazu richtet er sich auf und macht mit unverkennbarem Stolz Handzeichen, die bedeuten, daß er schon fünfundfünfzig Jahre alt ist. Und gerade, als alle gespannt sind, was er jetzt sagt, klopft es wieder. Der Redner zieht sich sofort an seine Wand zurück. Vor der Tür steht etwas aufgebracht der Portier. Diesmal macht er einen noch nervöseren Eindruck. Er schaut sich im Zimmer um, erblickt den fünfundfünfzigjährigen Landsmann und bedeutet ihm unmißverständlich, aber gerade noch höflich, die Feier zu verlassen. Haschim geht vorsichtshalber freiwillig. Den Rest bittet der Portier nochmals um Ruhe. Er will keinen Ärger. Nachdem der Ärger über diese Unterbrechung verflogen ist, folgt wiederholt ein anhaltendes Gelächter über den Gast in Unterhosen. Einige Stunden nach Mitternacht verabschieden sich die Gäste tatsächlich, und die ersten Stunden Schlaf in der fremden Stadt werden fällig, um sie am nächsten Tag tapfer erkunden zu können, Treffpunkt etwa um elf Uhr im Hotel von Kathrin und Tobias.
…
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