Verminte Paradiese

Zwanzig Jahre später, im Spätwinter 2007, hält ein junger Herr Doktor Ferry Böhme aus dem ehemals „demokratischen“ Deutschland im Münchner Augustinerkeller einen Diavortrag mit dem Titel „verminte Paradiese“. Die Veranstaltung ist Teil einer Vortragsreihe der größten Münchner Alpenvereinssektionen, der Eintritt ist aber für jeden frei, auch für Nichtmitglieder. Laienhafte Vorträge mit Urlaubsdianiveau über nette Wanderungen oder sonstige Outdoortätigkeiten haben früher den Saal schier zum Bersten gebracht. In Erinnerung daran wäre ich eine Stunde vor Beginn gekommen, wenn mir der Prospekt früher in die Hände gefallen wäre. Man kann hier ja seine Zeit nach Belieben mit dem Verzehr bayrischer Hausmannskost á la Carte verbringen.

Der Saal ist aber eine Viertelstunde vor Beginn des Vortrags nicht einmal halb voll. Daher versuche ich, einen Platz weit vorne zu bekommen. Nein, der Tisch ist für die Alpenvereinshonoratioren reserviert. Er wird fast leer bleiben. Ich setze mich an einen Tisch im hinteren Drittel. Den habe ich vorerst für mich allein. Zwanzig hätten ohne Enge Platz. Auf den Biertischen liegen Kopien von Zeitungsausschnitten bereit, keine Woche alt, über geteilte Dörfer und über ein bosnisches Parlament, in dem sich die Vertreter der einzelnen Volksgruppen aus Prinzip gegenseitig blockieren.

Der Vortragende erzählt, er habe über ein Jahr im ehemaligen Jugoslawien verbracht, und warnt uns vor, dass er sich dort, um nicht wahnsinnig zu werden, einen derben Sarkasmus zugelegt habe. Ich glaube ihm das, ich wage nur selten daran zu denken, was aus dem friedlichen Jugoslawien von damals geworden sein muss.

Wo wart ihr am elften September Zwotausendeins? Damals wurden jenseits des Atlantik dreitausend Menschen ermordet. Diese Zahlen kennt hier fast jeder. Leider kann ich mir Zahlen sehr schlecht merken, aber in solchen Fällen bin ich nicht traurig über diese Schwäche.

Wo wart ihr am … ? Er nennt ein Datum, dann einen Ortsnamen aus dem ehemaligen Jugoslawien und eine Zahl um die achttausend. Nur sechshundert Kilometer sei das von München weg, wenige Autostunden, ganz nah an unseren beliebten Urlaubszielen. Das hört sich nach einer Neuigkeit an, das Datum ist in unseren Köpfen unbekannt. Dabei könnte er mehrere Ortsnamen mit Daten und Zahlen von Ermordeten nennen, die den dem Terrorangriff in den USA in den Schatten stellen.

Dann kommen schöne und schreckliche Bilder von Landschaften, verrottendem Kriegsgerät und zerstörten Ortsteilen, Geschichten und Zahlen, erzählt mit einem staubtrockenen Humor, oft aber einem Inhalt, der das Lachen im Hals in Staub verwandelt, der einem nach und nach die Luft nimmt. Ein rüstiger älterer Herr, bestimmt ein altgedienter und immer noch aktiver Bergfex, bittet ihn, nicht so dick aufzutragen. Der Vortragende betont, er habe uns gewarnt und halte sich sowieso schon zurück.

Schön sind die Bilder, lieblich die Landschaften, noch schöner, als ich die karstigen Hügel in Erinnerung habe. Einem schönen Bild folgt ein Kommentar. Ein Bergwanderer würde zum Beispiel hier einen netten Anstieg auf einen Pass sehen, und oben am Sattel einen grandiosen Ausblick erwarten. Leider ist der ganze Hang vermint. Und hier wurde früher Heu gemäht, mit der Hand, weil es zu steil für Maschinen ist. Leider ist es auch für Maschinenräumpanzer zu steil. Man sieht eine kleine abgemähte Fläche in der Böschung, die Grenze genau markiert mit Schnüren. Das Säubern von Minen in Handarbeit wird noch mindestens soundsoviele Jahre dauern. Bis dahin sind diese Wiesen nicht nutzbar.

Ich erinnere mich daran, dass ich mir damals gelegentlich einen schönen Platz abseits der Straße gesucht habe, und auch, dass ich wenige Jahre später, als die Kriege anfingen, an diese Plätze gedacht habe, und an die Minen, die das Betreten eines großen Teils des Landes zu einer lebensgefährlichen Mutprobe machen, für Generationen. Minen verändern ein Land für immer. Pilze und Beeren sammeln oder Austreten in der Natur wird zum Tabu.

Noch nie habe ich von einem Anschlag auf eine Fabrik für Landminen gehört. Wie viele Menschenleben könnte so eine mittlere Explosion retten? Vermutlich keine. Die Dinger sind so billig und einfach herzustellen, dass nur eine andere Fabrik die Produktion hochfahren müsste. Außerdem würden so Täter zu Opfern. Ich stelle mir Spendenkonten für notleidende Minenfabrikanten vor. Und wenn es Tote gäbe, bekämen die überlebenden Minenmörder einen Heiligenschein, das Verlieren von Körperteilen oder des Lebens durch unabsichtlichen Kontakt mit einer Mine würde womöglich als Verhetzung geahndet.

Man bräuchte wirkungsvollere Maßnahmen. Leider lässt sich mit Billigprodukten für militärische Zwecke Geld ohne Ende verdienen, so dass ein Verbot dieses feigen Schrotts niemals auch nur ernsthaft erwägt werden wird, oder weltweit drastische Strafen für Hersteller, Händler und Anwender des perversen Drecks. Am besten könnte die Verpflichtung für die Hersteller wirken, zusammen sämtliche Kosten zu tragen, die weltweit durch die Anwendung ihrer Produkte entstehen, Ausfälle in der Nutzung des verminten Grundes, zum Beispiel für Landwirtschaft oder Tourismus, Entschädigungen an Angehörige von Opfern, medizinische Versorgung von Überlebenden, deren lebenslanger Verdienstausfall, Begräbniskosten, Kosten für die Räumung, Kosten für die wirtschaftlichen Ausfälle, die entstehen, wenn ein Land durch Minendurchseuchung an Attraktivität für Touristen und Investoren verliert. Vielleicht würde das die Teile teuer und unrentabel machen.

Eine verschneite Berglandschaft nahe der Olympiastadt Sarajevo unter strahlend blauem Himmel schmückt einladend die große Leinwand. Der Referent kann fotografieren. Einige von euch werden hier schon in Gedanken Spuren für Anstiege und Abfahrten ziehen. Denkt nicht einmal daran. Für die Bemerkung erntet er genervtes Stöhnen aus dem Publikum. Ich wüsste nicht, wie er die Situation treffender darstellen sollte. Die Frage ist, ob man eine treffende Darstellung will. Amerika und der Irak sind weit weg, aber wer will vor der Haustür Landschaften, die man nicht betreten darf, wo jeder unbedacht freie Schritt der letzte sein kann? Wer will so etwas wahrhaben?

Auch andere explosive Geheimnisse kommen anschaulich zur Sprache. Einige Volksgruppen, im Laufe der Kriege vermutlich alle, früher einfach Nachbarn, haben sich heftig und gemein bekriegt. Andere tun das immer noch. Schon zur Hälfte des Vortrags gibt es keine Guten, keine Unschuldigen mehr. Luftaufnahmen kommen als Rätselspiel. Dabei geht es um Ortschaften, in denen offensichtlich gezielt bestimmte Viertel oder Straßenzüge zerstört sind. Hier haben Minderheiten gewohnt. Von Ort zu Ort wechseln die Rollen der verschiedenen Volksgruppen, hier sind sie Opfer, dort Täter.

Wieso haben in diesem Dorf ein paar Häuserreihen keine Dächer mehr? Die Bewohner gehörten zur falschen Gruppe, so dass die Nachbarn ihnen das Haus abgedeckt haben. Das geht ganz einfach vom Keller aus. Man nehme eine große Gasflasche und eine Kerze. Die Kerze zündet man an, die Gasflasche dreht man auf, dann muss man nur noch warten, bis das Gemisch aus Gas und Luft passt.

Nicht nur Privatquartiere sind der kalkulierten Zerstörungswut zum Opfer gefallen. Wir sehen gelungene Aufnahmen einer prächtigen Kirche, in ihrer Art wohl einzigartig. Der Vortragende kommt fast ins Schwärmen, bittet uns darum, uns diese Bilder gut einzuprägen. Es sind die letzten. Der Krieg ist noch nicht aus. Zur Zeit versucht man, dem Gegner seine Identität durch Zerstörung seiner Kulturdenkmäler zu schwächen. Hier liegt wohl auch der Grund, warum Serbien so am Kosovo hängt. Nahe des Amselfelds stehen die Sinnbilder der serbischen Identität schlechthin, eine Kirche und ein Kloster, rund um die Uhr von UNO-Truppen bewacht. Nach einem Abzug der Truppen wären die Gebäude innerhalb kürzester Zeit verschwunden.

Aber das Reisen in der Region kann immer noch schön sein, wunderschön, die einzelnen Menschen sind nach wie vor freundlich, und es gibt auch nach wie vor friedliche Dörfer. Zum Teil haben die eine Bevölkerung, die auf den ersten Blick ein Widerspruch in sich ist, zum Beispiel serbische Moslems – vielleicht die friedlichste Gruppierung auf dem ganzen Balkan – die in einer vorindustiellen Idylle leben, vielleicht zu arm für einen Bürgerkrieg.

Wie ist es wohl den Hirtenburschen in den Kriegen ergangen? Ob noch einer davon lebt? Das Gleiche frage ich mich über all meine Gastgeber auf der damaligen Reise und deren Familien. Von einer Bekannten aus dem damals jugoslawischen Mazedonien weiß ich, dass ihre beiden Neffen aus Deutschland nach Jugoslawien zurückgeschickt worden sind, in den Krieg, den es offiziell vielleicht nie gegeben hat. Da waren sie aber nur für ein paar Wochen, keinen Monat mehr – ihr restliches Leben.

Mehr Angst als vor Minen hätte ich heute vor den Menschen. Was wird aus jemandem, wie wird jemand, der um sich herum jahrelang so viel unsinnige rohe und kalkulierte Gewalt erlebt hat? Kann es wieder das friedliche und unbeschwert aufsterebende Jugoslawien von vor zwanzig Jahren geben?

Hierzulande wird der Balkan fast immer in einen negativen Zusammenhang gebracht, Krieg, Verbrechen und Gewalt. ausgerechnet der sarkastische desillusionierende Vortragende zeigt Fotos von Zeugen einer anderen, für Europa beispielhaft friedlichen Gesellschaft, die Jahrhunderte lang die Anfeindungen der vorherrschenden Religionsrichtungen überlebt hat. Er hat Grabmäler auf einem Friedhof der Bogumilen fotografiert, knapp meterhohe Steinquader mit gut erhaltenen Reliefs. Auf dem Friedhof wurde übrigens aus bekanntem Grund seit Jahren nicht mehr gemäht, weshalb der Fotograf von Stein zu Stein hüpfen musste. Die Seiten der Steine hat er mit Hilfe einer Grasschere vorsichtig freigelegt. Es solle bloß niemand auf die Idee kommen, die Grasbüschel einfach auszurupfen …



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