Als ich auf Kaunas zusteuere, verspüre ich keine Lust, mich mit der Metropole auseinander zu setzen und versuche, drum herum zu fahren. Kurz vor dem Ortskern geht nach links eine Umgehungsstraße weg, oder was ich dafür halte. Bald setzen sich zwei Jungs, die zusammen auf einem Mofa fahren, neben mich, und schreien auf englisch, wo ich hin wolle. Ich nenne eine Ortschaft, die nördlich von Kaunas liegt. Die beiden verstehen nichts und wiederholen die Frage im gleichen Tonfall, der mir nicht höflich vorkommt, eher herrisch, wie von einem Polizisten, der jemanden, den er auf frischer Tat ertappt hat, zur Rede stellt. Dabei bin ich mir sicher, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Ein roter Mittelklassewagen mit einem jüngeren Pärchen als Insassen hält kurz an. Die Fahrerin, eine hübsche Blondine, fragt in bestem Englisch, ob sie etwas helfen könne. Ich nenne mein nächstes Ziel, und sie erklärt mir kurz, dass ich nur weiterfahren müsse, am Ende der Straße nach links abbiegen, und dann gleich wieder rechts und dann immer geradeaus. Ich bedanke mich und fahre weiter. Die Jungs folgen mir auch weiter. Jetzt haben sie ein Anliegen. Give me money, money. Gib mir Geld. Auf dem Ohr bin ich taub. Wenn ich ihnen was gebe, passen sie künftig jeden Fremden ab. Give me money money. Die Bengel nerven.
Ich trete etwas stärker in die Pedale. Mit zwei Passagieren ist das Mofa gut ausgelastet, so dass mein Antritt sogar bergauf ausreicht, um ein wenig Abstand zu gewinnen. Die beiden wollen noch nicht aufgeben. Ich bin aber noch lange nicht am Limit und weiß aus eigener schiebender und bei Bauern um Sprit bettelnder Erfahrung, dass die Tankfüllung von so einem kleinen Mofa nur begrenzt ist. Zügig aber ohne Hast halte ich den Abstand. Auf flachen Streckenabschnitten und bergab kann ich mich ja für die nächste Steigung ausruhen, die beiden Straßenräuber immer im Rückspiegel. Irgendwann geben sie auf und wenden.
Ich strample auf einer glatten Asphaltstraße parallel zu einem Fluss in einer vorwiegend bewaldeten Gegend weiter. Laut Karte muss ich demnächst in eine Ortschaft kommen, und einige Kilometer weiter in eine Ortschaft, die wieder an der Via Baltica liegt. Das Ganze dürfte kein Umweg sein. Tatsächlich sehe ich bald Häuser, helle, neu wirkende moderne Holzhäuser, wie ich sie an entsprechenden Stellen auch in Deutschland erwarten würde, sauber wie die blitzblanke Straße. Ich jage dahin wie der Wind.
Einige der Häuser geben schon Licht, manche Lampen gehen erst an, als ich am Grundstück vorbeifahre. Sieht nach großzügig eingestellten Bewegungsmeldern aus. Die starke Bewölkung zieht die Abenddämmerung deutlich vor. Menschen sehe ich keine. Langsam beginnt es zu nieseln und zu regnen. Abrupt geht der Asphaltbelag in festgewalzten Sand und Kies über. Hier ist vermutlich die Straße noch nicht fertig. Die Straßenbreite bleibt. Vermutlich überziehe ich mich gerade kräftig mit Schlamm. So plötzlich der Asphaltbelag verschwunden ist, so unvermittelt fängt er wieder an. Die Ortschaft ist vorbei, es hört zu regnen auf, ich bin wieder zwischen Wald und Wiesen. Insgeheim hatte ich auf eine Übernachtungsmöglichkeit auf der Strecke gehofft, aber ich finde nichts dergleichen, nicht einmal Läden, keinen einzigen Spaziergänger oder Radfahrer. Vermutlich sind die Litauer brave Menschen, die gleichzeitig mit den Hühnern schlafen gehen. Als ich die Stadt an der Via Baltica, Panevezys, erreiche, ist es bereits dunkel. Hier fühle ich mich wie nach einer Zeitreise oder in einem Museum.
Der Zeitsprung hat während der Unterbrechung der Teerstrecke stattgefunden. Jetzt bin ich in einem Jahrhundert weit vor der Automobilisierung und vor Erfindung der Leuchtreklame und des Schaufensters gelandet. Zumindest Straßenbeleuchtung gibt es schon. Ich bin in keinem verfallenen Geisterdorf. Alles ist bestens gepflegt. Allerdings habe ich die Sperrstunde verpasst, so dass kein Mensch mehr auf der Straße ist. Der Nachtwächter hat mich auf meinem flachen Gefährt wohl übersehen, so dass ich unbehelligt durch die Straßen kurven kann. Das Postsystem und damit das Hotel Post, das man heutzutage in jeder Stadtmitte findet, ist auch noch nicht erfunden. Sonstige Gasthäuser oder Eckkneipen, wo man nach Unterkunft im Ort fragen könnte, gibt es auch noch nicht. Gibt es doch, man sieht vereinzelt die Schilder, altmodisch, gemalt oder aus Eisen, unbeleuchtet, aber alle haben zu – schöne, massive geschlossene Holztüren.
Es gibt doch ein beleuchtetes Schild, ein internationales I wie Information, leider ohne eine für mich momentan brauchbare Information.
Ich bin also nicht in der Vergangenheit, sondern in einem Museum. Ausstellungsstück ist eine Stadt aus der Zeit vor der Industrialisierung. Darum wirkt die Straßenbeleuchtung elektrisch: Sie ist vom Museum, nicht vom Ausstellungsstück. Alle Erkenntnisse nutzen mir nichts, ich bin müde. Nach ein paar Runden durch die Museumsstadt fahre ich weiter in eine Richtung, die ich für Norden halte. Die Ortschaft ist größer als der museale Kern. Die Vororte sind aber auch nicht belebter.
Ein Gebäude fällt mir auf, wegen einer offenen Tür, aus der Licht fällt. Ich werfe im Vorbeifahren einen Blick hinein und halte es für einen Gemischtwarenladen mit Ausschankerlaubnis, die ermöglicht, den Laden bis spät in die Nacht offen zu halten. Tatsächlich ist das der einzige Punkt seit Stunden, an dem ich menschliches Leben wahrnehme. Immer wieder kommen und gehen kleine Grüppchen von jungen Leuten, die in Autos unterwegs sind. Ich frage eine dieser Gruppen nach einem Hotel. Es gibt eins, einfach weiter nach Norden, jenseits der Bahngleise, dann nach der nächsten Straße auf der rechten Seite. Ob es noch auf hat, ist eine andere Frage. Ich sollte mich beeilen.
Während ich mich auf den Weg mache, kommt ein Zug. Dabei fällt mir auf, dass der Übergang über das besagte Bahngleis bewirtschaftet ist. Mitten im Ort gibt es ein winziges beleuchtetes Häuschen, in dem eine dickliche Frau die Schranken bedient.
Das Hotel fiände ich gleich, aber die Rezeption hat bereits zu. Klopfen hilft nicht, und Klingel gibt es auch keine. In den unteren Stockwerken sehe ich auch kein Licht.
Daher fahre ich weiter bis ich keine Häuser mehr sehe und suche mir einen durch ein paar Büsche sichtgeschützten Platz. Hier teste ich eine Übernachtungsmethode, bei der ich im Bedarfsfall, falls es zum Beispiel doch richtig regnet, innerhalb einer Minute wieder auf dem Rad wäre. Den Schlafsack lasse ich in der Tasche, der würde sich vermutlich im Laufe der Nacht sowieso nur voll saugen. Dafür baue ich auf die Stauwärme meiner Regensachen und des Regenponchos. Das geht gar nicht schlecht. Ich schlafe gerne mit viel Luft um die Nase, lieber als in jedem Zelt oder Zimmer. Was nervt, ist nur das ständige Tropfen, das auf meiner Isomatte recht laut aufschlägt.
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