Um möglichst viel aus den fünfundsechzig Euro für meine erste Hotelübernachtung in Norwegen herauszuholen, verbringe ich zwei Stunden mit dem Frühstücksbuffet. Krokodile fressen für bis zu zwei Jahre im voraus, wieso sollte ich so was nicht auch können? Der Mensch ist schließich ein viel moderneres Modell. Recht alt sollen diese Reptilien auch werden, und sie sind eine der ältesten noch nicht ausgestorbenen Tierarten. Was sich hundert Millionen Jahre lang durchsetzt, muss gesund sein. Ich gehe doch noch zu dem Warmhaltebehälter mit den Fleischbällchen. Vielleicht sind da doch Nährstoffe drin, die im Lachs und den ganzen anderen Sachen gefehlt haben.
Durch die Glasfront, hinter der der Frühstücksraum liegt, habe ich gesehen, dass langsam Gegenverkehr kommt. Ein Radler oder eine Radfahrerin mit schwer bepacktem Fahrzeug hat auf dem Parkplatz angehalten und die Karte studiert. In dieser dünn besiedelten Region nimmt man gerne so eine markante Gebäudegruppe aus Hotel, Souvenirladen, Campingplatz, Tankstelle und Café als Anhaltspunkt zur Orientierung oder um zu checken, ob man nicht doch noch etwas braucht. In diesem Fall ist das besonders berechtigt, da hier die letzte Einkaufsmöglichkeit vor dem Nordkaptunnel besteht. Auf den nächsten achtzig Kilometern gibt es nur vereinzelte Häuschen am Strand und etliche Schafe und Rentiere. Die Radfahrerin zum Beispiel, doch, ich glaube, es ist eine Frau, die geht ins benachbarte Café.
Selber gehe ich bezahlen und packe mein Rad auf. Jetzt erfahre ich auch, was es mit dem weißen Zeug auf sich hat, das vor dem Hotel und den Nachbargebäuden wie Schneereste in allen Fugen und Ecken liegt.
Darüber habe ich mich gestern Nacht schon gewundert, als ich steinmüde um halb zwölf, bei einbrechender Dunkelheit, hier gelandet bin. Für Schnee war es eigentlich mit gefühlten zehn Grad plus zu warm. Dass direkt am Meer alles mehr oder weniger versalzt, war mir klar. Aber hier lagen fünfzig Meter und eine Landstraße dazwischen. Sehe ich hier das Zeugnis einer besonderen Naturerscheinung? Die war auf jeden Fall ausschlaggebend dafür, dass ich gestern Nacht das Hotel als Schlafplatz gewählt habe. Die Wetterkapriolen auf den letzten Kilometern auf dem Weg zum Nordkap und zurück in der Nacht zuvor waren noch zu nah und deutlich in meinem Gedächtnis. Innerhalb von zehn Kilometern hatte ich mehrfach die ganze Palette von Sonne bis Sturm und Hagel und zurück, oft im Minutentakt, und auf dem Rückweg praktisch das Gleiche. Gestern, nach der friedlichen Fahrt um die Fjorde, wollte ich nicht überraschend im Schlaf eingeschneit werden. Ich war zu müde, um mir eine angemessene Reaktion zuzutrauen.
Als ich gestern gegen Mitternacht die Lage gepeilt habe, also einen Blick auf den Campingplatz geworfen, der direkt hinter dem Hotel liegt, hat mich der Mann, der gerade Schicht geschoben hat, entdeckt und gemeint, im Hotel sei noch etwas frei. Eine freie Hütte häte ich natrlich auch genommen, aber im Nachhinein gesehen war Hotel mit Frühstücksbuffet vielleicht sogar günstiger. Und überhaupt war das meine erste Hotelnacht seit Lettland, und vorgestern habe ich immerhin das Nordkap erreicht.
Und das weiße Zeug, das wie Schnee aussieht, ist Salz und dient zur Unkrautbekämpfung. Was wächst denn in dieser rauen Gegend schon freiwillig? Egal, ich versuche, mein Rad mit möglichst wenig Bodenkontakt durch die Salzstreifen zu bekommen, und werfe ausnahmsweise einen Blick in den Souvenirladen.
Mit den Souvenirs von Radtouren ist das so eine Sache: Was schwerer als hundert Gramm oder sperrig oder zerbrechlich ist, sehe ich gar nicht erst, Kitsch ignoriere ich. Da dürfte kaum etwas brig bleiben. Weil mir das bewusst ist, gehe ich normalerweise erst gar nicht in so einen Laden. Zur Feier des Tages und weil ich seit frühester Kindheit nicht mehr in so was drin war, wenn überhaupt, gehe ich trotzdem rein.
Woran ich mich erinnern kann, ist, dass ich zuerst allein bin, und nach und nach immer mehr Leute kommen. Draußen sehe ich zwei Reisebusse und zwei voll bepackte Fahrräder. Das Pärchen aus der französischsprachigen Schweiz ist natürlich unterwegs zum Nordkap. Während wir uns vor dem Souvenirladen unterhalten, vor allem Informationen ber die bisherige Strecke austauschen, fragt jemand anderes, wo ich her sei, und ob er mich fotografieren dürfe, zusammen mit meinem Rad. Ich mache mit, sollen die ihren Spaß haben. Dann nehmen wir das Gespräch wieder auf.
Mittlerweile ist noch ein Bus angekommen. Wo kommen Sie her? Fahren Sie auch zum Nordkap? Nein, da war ich schon, aber die beiden fahren heute da hin. Toll, darf ich ein Foto von Ihnen und dem Liegerad machen?
Inzwischen ist die Radfahrerin aus dem Café wieder aufgetaucht und gesellt sich zu uns. Die zierliche Frau mit dem verwegenen grau-blond melierten Zopf und den lustigen Augen, der es lieber gewesen wäre, wenn ich französisch gesprochen hätte, die aber auch sehr gut englisch kann, kommt aus Frankreich, aus der Gegend zwischen Nizza und Monaco. Da war ich 1988, auch mit dem Rad. Gutes Gedächtnis hast du.
Sie ist in Bergen gestartet, in etwa wie die beiden Schweizer, und will natrlich zum Nordkap. In den Ferien macht sie immer eine Radtour, um ein bestimmtes Land ein wenig kennen zu lernen, mal Schottland, mal Burma, und alle möglichen sonstigen Länder. Hört sich interessant an. Die Frau hätte sicher viel zu erzählen.
Ich erzähle, dass die beiden anderen auch französisch könen und auch unterwegs zum Kap sind, und natrlich von der Strecke, die noch kommt. Es wird außer dem vorletzten Campingplatz noch eine einzige Einkaufsgelegenheit geben, in Honningsvag, ein paar Kilometer nach dem Nordkap-Tunnel und noch einem Tunnel rechts unten am Meer. Der Nordkaptunnel ist mit seinen über dreihundert Höhenmetern abwärts und aufwärts auf sieben Kilometer Länge nicht zu unterschätzen, aber machbar. Und die letzten zwanzig Kilometer zum Kap sind recht bergig, aber da ihr durch Norwegen gekommen seid, wird das nichts besonderes für euch sein. Heute Nachmittag könntet ihr das Nordkap erreichen.
Die Unterhaltung wird immer schwieriger. Immer wieder will mich jemand mit meinem Rad fotografieren oder interviewen, obwohl ich mich eindeutig mit den anderen Radfahrern unterhalte. Ein Bus aus Österreich ist inzwischen auch eingetroffen. Die Interviews nehmen professionelleren Charakter an. Einer fragt und einer fasst meine Antwort inhaltlich zusammen, so wie neulich der Reporter in Polen. Es hört sich zwar so an, als würde der Zusammenfasser ständig mich und seinen österreichischen Landsmann korrigieren, aber vermutlich lässt einer der beiden oder ein weiterer Reisegenosse diskret ein Diktiergerät oder eine Kamera im Handyformat mitlaufen.
Verzweifelt versuche ich, mit den Radfahrern in Kontakt zu bleiben. Die Rückreise wrde mich noch interessieren. Noch habe ich die Idee nicht aufgegeben, einen Teil der Strecke mit dem Postschiff auf der Hurtigrute zurckzulegen. Wenn jemand der anderen das auch vor hat, wäre ein Wiedersehen ja nicht ausgeschlossen. Die Französin hat zum Beispiel praktisch das gleiche verbleibende Zeitbudget. Ich komme nur beim besten Willen nicht mehr dazu, mit ihr zu reden. Fahren Sie mit dem Rad noch zum Nordkap? Nein, aber die anderen drei Radfahrer. Mit denen redet niemand. Vermutlich schaut mein Liegerad einfach spektakulärer aus. So schön es hier im Flachland zu fahren ist, so auffälig ist es noch. Immer wieder versuche ich, die Fragen der Busreisenden kurz, knapp und langweilig zu beantworten, um möglichst gleich wieder mit den anderen reden zu können, aber nach jeder Antwort tauchen neue Fragen und Frager auf. Obwohl ich mindestens zehnmal darauf hinweise, dass die anderen Radler genau ihre Reiseroute vor sich haben, redet die niemand an. Ich winke ihnen zum Abschied zu. Ein gesprochener Gruß ist nicht mehr möglich. Bald kann ich aber einen ruhigen Moment nutzen, an dem gerade weniger Busse vor dem Laden parken, um mich per Kamera wohl dokumentiert nach Süden abzusetzen.
Zumindest schmerzt mein rechter Knöchel seit zwei Tagen nicht mehr, so dass ich endlich wieder locker und zgig durchfahren kann. Zwar irritiert mich, dass dieser Knöchel immer dicker wird, seit der Schmerz nachgelassen hat, aber vorerst freue ich mich darüber, dass er nicht mehr weh tut, und vor allem, dass ich der ungewohnten Meute entronnen und wieder unterwegs bin.
Verstehen kann ich die Leute schon. Die sind tagelang mit Scott, Michel aus Lönneberga, Jack London und Amundsen im Hinterkopf und mit ihren Kameras bewaffnet im Bus gesessen und ber Autobahnen und Landstraßen gebrettert, und haben bisher, abgesehen von ein paar Halts, nicht viel mehr mitbekommen, als sich gegenseitig und viel Landschaft. Und jetzt haben sie auf einmal ein neues Motiv, mit dem sie sogar reden können. Und ein Liegeradler auf dem Weg zum Nordkap ist noch dazu etwas seltenes, auch wenn ich bei weitem nicht der erste bin.
Aber nerven tut es trotzdem. Es waren einfach zu viele auf einmal. Und vor allem der Französin hätte ich gerne noch ein paar Fragen gestellt.
Erschöpft und mit dem festen Vorsatz, künftig um Parkplätze mit Reisebussen einen möglichst großen Bogen zu machen, strample ich in Richtung Alta.
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